Veränderung

„Trauer ist eine Reaktion auf Verlust“

Pastoralreferent Ulrich Keller ist Fachreferent für Trauer und Trauma im Erzbischöflichen Ordinariat. Im Interview erzählt er wie Veränderungen Menschen in eine Krise stürzen können.

Auch positive Veränderung kann Trauer mit sich bringen. © SHOTPRIME STUDIO - stock.adobe.com

mk online: Inwiefern ist denn jede Veränderung im Leben auch mit Trauer verbunden?

Ulrich Keller: Trauer ist grundsätzlich eine Reaktion auf Verlust. Die fällt von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus und erstreckt sich auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Letztlich geht es darum, wie stark Veränderungen eine Einbuße an Sicherheit, Geborgenheit oder materiellen Dingen bedeuten.

Kann es dann auch sein, dass schöne Veränderungen, etwa eine Eheschließung, Trauer auslösen?

Keller: Durchaus, ja. Es gibt Untersuchungen, dass bei Paaren, die sich zu einer Heirat entschließen, Stress und seelische Belastungen entstehen können. Da kommen Fragen auf, ob man sich wirklich auf den Partner ein- und verlassen kann, da erwachen oft große Bindungsängste. Dann gibt es nach der Geburt die bekannte Wochenbett-Depression, die eine Reaktion auf eine Veränderung ist, die das ganze weitere Leben betrifft. Solche Einschnitte ins Leben gehen mit Unsicherheit einher. Da können psychologische und pastorale Begleitung helfen. Ein Seelsorger sollte jedenfalls im Blick haben, dass freudige Ereignisse im Leben nicht so einfach zu verarbeiten sind und nicht nur glücklich machen.

Wie findet sich denn die Seele mit solchen Veränderungen zurecht?

Keller: Grundsätzlich sind alle sichtbaren Reaktionen gut, weil etwa das Weinen ja zeigt, dass ein Mensch die Veränderungen in seinem Leben körperlich, emotional und geistig zu integrieren beginnt. Die Seele beherbergt jede Veränderung und weiß, dass gleichzeitig etwas losgelassen und angenommen werden muss. Also wenn ein Kind kommt, ist das vertraute Leben zu zweit vorbei und das Paar muss sich bei aller Freude darauf einstellen, nun einen neuen Menschen in dieses Leben hineinzulassen.

Inwiefern unterscheidet sich denn die Corona-Pandemie von anderen Veränderungen, die einzelne Menschen, aber auch eine ganze Gesellschaft erleben?

Keller: Wir Menschen sind Wesen, die mit einem Dauerradar ihre Umwelt beinahe ständig nach Gefahr absuchen. Das war in der Entwicklungsgeschichte überlebensnotwendig. Corona fühlt sich an wie eine Dauergefahr, und eine solche Krise löst Angst aus, die bis hin zu Panik und Verzweiflung gehen kann. Es kann auch zu Wut und Aggressionen führen, die abstruse Verschwörungstheorien und Hass auslösen. Ich erlebe aber auch, dass Corona viele Menschen dazu führt, sich wieder mit dem Tod und menschlichen Grenzen auseinanderzusetzen. Insofern ist das schon ein Phänomen, mit dem die Gesellschaften in Europa schon lange nicht mehr so intensiv zu tun hatten.

Wie lässt sich denn in dieser Situation die seelische Balance halten?

Keller: In Krisen kommen Menschen ihrem seelischen Kern näher. Da kann es wichtig sein, sich einfach hinzusetzen und darauf zu achten, was im Innern passiert, welche tieferen Ängste mich plagen, und wie ich diese, indem ich sie lerne anzunehmen, auflösen kann. Das ist nicht leicht und oft schmerzhaft, aber auch ein spiritueller Weg, der neue Kräfte und Ressourcen freilegt.

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de