Passionsspiele Oberammergau

Stückl: "Es gibt Momente, wo sich Jesus wohl wie ein Tor vorkam"

Zum vierten Mal inszeniert Christian Stückl das Spiel vom Leiden und Sterben Jesu in Oberammergau. Im Interview spricht er über die Botschaft Jesu in dieser Zeit, über die Fehler der katholischen Kirche und wie schwer es ist, die Auferstehung glaubhaft auf die Bühne zu bringen.

Christian Stückl im Interview über die Passionsspiele 2022. © Gabriela Neeb

Herr Stückl, hat die coronabedingte Verzögerung auch etwas Gutes gehabt?

Christian Stückl: Wir waren im März 2020 so intensiv in der Geschichte drin, und dann die Vollbremsung. Das Ganze hat, jedenfalls für mich, schon viel Negatives mit sich gebracht. Doch auch wenn ich bei den Darstellern der jüngeren Generation ein paar Leute verloren habe, gelang es, wirklich gute neue dazu zu gewinnen. Allerdings war bei den ersten Proben im Januar dieses Jahres noch nicht klar, ob wir spielen können. Der Gesundheitsminister meinte, er könne sich nicht vorstellen, dass im Theater 4.500 Menschen sitzen. Inzwischen ist es möglich. Es war alles eine rechte Zitterpartie.

Gibt es Szenen, die Ihnen weiter schlaflose Nächte bereiten?

Stückl: Über 2.000 Jahren wird die Geschichte von einem Mann namens Pontius Pilatus erzählt, der seine Hände in Unschuld wäscht - und das glaubt man ihm. Heute wissen wir, dass diese mit dem historischen Pilatus nichts zu tun hat. Kopfweh beschert mir das Ganze, weil ich merke, was immer ich mache, du kommst nicht gegen dieses Bild an, das in den Evangelien steht und das so lange kolportiert wurde. Das bleibt vermutlich so.

Sie haben mehrere Auszeichnungen bekommen, weil es Ihnen gelungen ist, die Passion zunehmend vom Antisemitismus zu befreien. Eine Aufgabe, die, wie Sie sagen, nie zu Ende ist. An welchem Punkt stehen Sie?

Stückl: Ich persönlich bin frei von Antisemitismus. Für mich ist jede Ausgrenzung von Religion oder was anderem ganz komisch. Wo wir aber gesellschaftlich stehen, wissen wir nie. So ist bekanntlich in der Pandemie-Zeit der Antisemitismus wieder heftiger geworden.

Und mit Blick auf die Bühne?

Stückl: Beim Spiel 2000 habe ich bewusst das Händewaschen des Pilatus weggelassen. Er ließ sich Wasser bringen, hat es aber ausgeschüttet. Doch die Zuschauer haben das Ausschütten nicht als etwas Besonderes wahrgenommen. Jetzt lasse ich den Joseph von Arimathäa, wenn das Volk vor Pilatus steht, sagen: "Lasst Euch nicht spalten durch diesen Mann. Schaut an, was er tut." Ein anderer ergänzt: "Schaut auf sein hämisches Lachen, er hat das Urteil längst gefällt." Darauf Pilatus: "Der Jude hat es erkannt. Das Todesurteil wurde längst abgefasst. Ihr schreit euch umsonst die Seele aus dem Hals." Aber ob das hilft, die bekannte Geschichte aus dem Kopf der Leute zu bringen?

Wie kann Jesus für die Menschen heute ein Vorbild sein?

Stückl: Bei den letzten Proben habe ich mir gedacht, er gerät mir etwas zu laut. Warum ist der so wütend bei mir? Aber wahrscheinlich ist es die Situation, in der man selbst gerade Jesus liest. Man hat den Eindruck, es hilft nichts mehr. Da ist die Verzweiflung, dass diese Welt sich nicht ändern wird. Jesus weiß um seinen Weg, er geht ihn konsequent bis zum Ende, auch wenn ihn dieser das Leben kostet. In einem der Paulus-Briefe heißt es: "den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit." Ich will nicht sagen, was Jesus getan hat, war eine Torheit. Sicher nicht. Aber es gibt Momente, wo er sich wohl wie ein Tor vorkam.

Sie haben mit "Jesus" selber eine Entwicklung mitgemacht. Erst war er der Revoluzzer, dann eher zurückhaltend, jetzt sollte er wieder lauter werden. Ist er Ihnen nun zu laut geworden?

Stückl: Er ist ein Verzweifelter an der Welt. Vielleicht gilt das im Augenblick auch für mich. Was immer Jesus vorlebt, also dass er an die Ränder geht, sich den Armen aussetzt und Partei nimmt für die Witwen und Waisen, darin kann er Vorbild sein. Mit Sätzen wie "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt, bringt es keine Frucht", tue ich mir schwer. Das Weizenkorn bringt derzeit keine Frucht, wenn ich etwa auf den Krieg in der Ukraine schaue. Manchmal denke ich mir: Warum das alles? Vielleicht sollte man sich ein schönes Leben machen und die Geschichte nicht mehr erzählen.

Dabei lassen sich in Oberammergau nach wie vor so viele Menschen für das Passionsspiel und für die Botschaft Jesu begeistern. Was macht die Kirche falsch?

Stückl: Schon Jesus sagt bei Matthäus zu den Schriftgelehrten und Priestern, sie seien wie die übertünchten Gräber. Von außen schön anzusehen und von innen voller Totengeweide und Unrat. Jahrhunderte später hat Heinrich Heine geschrieben, er kenne die Herren, sie tränken heimlich Wein und predigten öffentlich Wasser. Was die Kirche falsch macht, ist offensichtlich. Sie hängt sich an ihre Dogmen, rechtfertigt das Zölibat, das Männerpriestertum. Und laut Ratzinger sind am Kindsmissbrauch die 68er schuld. Die Kirche steckt in einem Sumpf. Wenn sie aus dem nicht rauskommt, wird sich für sie niemand mehr begeistern. Die müssten mehr nach dem Evangelium leben.

Auch in Oberammergau haben Sie dazu lernen müssen, etwa in der Frauenfrage. Wo hat sich da etwas verschoben?

Stückl: Früher mussten Frauen in der zweiten Reihe stehen. Wer 35 war, durfte nicht mehr mitspielen. Drei Frauen haben vor Gericht eine Änderung erstritten. Das ist nicht mein Verdienst. 1990 habe ich aber zum ersten Mal eine verheiratete Frau Maria spielen lassen. Der Druck ist größer geworden. Jesus hat auch bei uns seine zwölf Apostel und weniger Frauen in seinem Umfeld. Da kann man noch viel tun.

Jesus predigt Gewaltlosigkeit. "Wer dich auf die linke Wange schlägt, dem halte auch die rechte hin." Wie hilft das weiter mit Blick auf die Ukraine?

Stückl: Auch wenn ich wie Jesus überzeugt bin, dass mit Gewalt wieder Gewalt erzeugt wird, sind solche Sätze schwierig anzuwenden. In unseren Köpfen ist drin, man kann sich nicht alles gefallen lassen. Wie lange das dann dauert, weiß kein Mensch. Meine Apostel-Darsteller sind nette junge Menschen. Von denen ist keiner gewalttätig. Aber mit dem Satz haben die auch ein Problem.

Am Ende geht Jesus bewusst in den Tod. Mit seiner Auferstehung ist die Hoffnung verbunden, dass dieser nicht vergeblich war. Wie lässt sich dies glaubhaft auf der Bühne darstellen?

Stückl: Gar nicht. Da stellt sich die Magdalena vor das Publikum hin und sagt: "ER ist erstanden, er ist auferstanden." Wie glaubhaft muss die Frau sein, dass man ihr das abnimmt? Einer meiner Apostel hörte skeptisch dieser Botschaft und dem Halleluja zu. Ich fragte ihn: "Wie schaut man in einer solchen Situation?" Da meinte er: "Das weiß ich nicht." Grinst man dann? Lacht man über beide Ohrwaschl? Ich habe mich damit abgefunden, an Grenzen zu stoßen. (Interview: Barbara Just/KNA)