Hirtenbrief von Kardinal Marx

"Seid also wachsam!"

In seinem Hirtenbrief zur Advents- und Weihnachtszeit 2020 geht Kardinal Reinhard Marx darauf ein, was die Geburt Jesu für unsere heutige Gesellschaft in "Corona-Zeiten" bedeutet.

Kardinal Reinhard Marx ist Erzbischof von München und Freising. © EOM

Liebe Schwestern und Brüder!

Nun leben wir bald schon ein Jahr lang in „Corona-Zeiten“, wie wir das mittlerweile nennen. Unser ganzes Leben, die Arbeitswelt, Familie, Schule, Kultur, Kirche - alles ist von diesem Virus mitgeprägt. Viele müssen ihren Alltag umstellen und ihr Leben neu organisieren. Vor allem sorgen wir uns um Gesundheit und Wohlergehen unserer Freunde, unserer Familie und auch von uns selbst. Viele Nachrichten und Gespräche kreisen um dieses Thema: Wie wird es weitergehen? Wie steht es um unsere Zukunft? Wird diese Krisenzeit unsere Gemeinschaft stärken? Oder nehmen Brüche und gesellschaftliche Spannungen langfristig doch zu? Werden wir das rechte Maß von Freiheit und Verantwortung finden?

Die „Corona-Zeit“ macht auch ganz deutlich, wie zerbrechlich unser Leben ist. Wir sind herausgefordert durch das Leiden und den Tod so vieler Menschen auf der ganzen Welt, und wir erfahren die Endlichkeit unseres Daseins. Wann und wie wir sterben werden, wissen wir nicht. Es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um Leben zu schützen und zu bewahren, aber wir sind und bleiben sterbliche Geschöpfe. Das wird uns in dieser Krise sehr deutlich vor Augen geführt.

Gott ist Mensch geworden

Mit all diesen Fragen und Sorgen gehen wir in die Adventszeit und bereiten uns auf das große Fest des Jahres vor, auf Weihnachten. Diese Wochen heben sich jedes Jahr durch viele Vorbereitungen, durch Hektik, durch erhöhten Konsum hervor, und sind zugleich doch durch Elemente der Ruhe und der Suche nach dem Wesentlichen geprägt. Vielleicht bietet die Advents- und Weihnachtszeit 2020 sogar eine besondere Möglichkeit, uns gerade mit all unseren Sorgen und Fragen darauf zu besinnen, was unser Leben und unseren Glauben wesentlich macht. Denn die starke Botschaft von Weihnachten ist ja: Gott ist Mensch geworden. Er ist in Jesus der Bruder aller Menschen. Deshalb ist es gut, ein Mensch zu sein! Das gilt zu allen Zeiten, auch in „Corona-Zeiten“.

Ruf zur Wachsamkeit

Diese Botschaft leuchtet in der Verkündigung Jesu von Nazareth auf. Er hält keine Vorträge, verfasst keinen Katechismus, predigt nicht zuerst Moral, vor allem verbreitet er keine Angst. Jesus spricht in vielen Gleichnissen vom Reich Gottes: Es ist die Wirklichkeit Gottes, die unter uns spürbar und sichtbar wird in seiner Person, seinen Worten und seinem Handeln. Jesus geht es auch um das Gericht Gottes am Ende der Zeiten, um das Leben nach dem Tod, aber zunächst und vordringlich geht es um die Frage, was jetzt, hier und heute, mitten unter uns geschehen kann. Von daher kommt sein Ruf zur Wachsamkeit, der die biblischen Texte im Advent auszeichnet. Es ist ein Ruf, aufmerksam zu sein, unsere Augen für das zu öffnen, was Gott in unserer Mitte und in unseren Herzen bewegen kann. Die Verkündigung Jesu lebt von dieser Haltung: Das Reich Gottes ist mitten unter euch! Schaut nur hin, öffnet euch im Wirken des Geistes! So hören wir es auch im Evangelium am ersten Adventssonntag: „Seid also wachsam!“ (Mk 13,35) Ich höre in diesen Worten zwar einen anspruchsvollen, aber keinen bedrohlichen Ton.

Der Himmel berührt die Erde

Ich höre eine Einladung und eine Ermutigung. Jesus ist ja nicht naiv; er weiß, dass unser Leben begrenzt ist, und dass wir nicht im Himmel, sondern auf der Erde leben mit all unseren Nöten, Sorgen und Fragen. Aber er will, dass wir erkennen können: Himmel und Erde sind endgültig miteinander verbunden. Der Wille Gottes soll im Himmel und auf der Erde geschehen, wie wir im Vater Unser beten. Das ist gerade keine Vertröstung auf ein Jenseits, das unsere Welt, unser Leben im Dunkeln lässt, sondern Jesus zeigt, dass das Reich Gottes da ist, dass der Himmel die Erde berührt.

Mitten in den Dunkelheiten unseres menschlichen Lebens verkündet Jesus durch sein Leben die Nähe Gottes, die für immer bleiben wird. Er selbst ist das „wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9). Diese Zusage gilt für jeden Menschen, zu allen Zeiten und an allen Orten dieser Erde.

Das Licht, das in der Dunkelheit entzündet wird, ist ein zentrales Symbol in der Advents- und Weihnachtszeit. Es gibt dieses Licht des Lebens, das wir selbst entzünden können in der Kraft unseres Glaubens. Gerade in diesen „Corona-Zeiten“ kann der Glaube und das Bekenntnis uns trösten und Hoffnung geben: Das Licht, das Gott uns in den Worten und in der Person Jesu schenkt, ist stärker als Dunkelheit und Tod. Dieser österliche Glaube ist auch unser weihnachtlicher Glaube: Gott will, dass wir leben, für immer!

Wir schauen auf die alten Menschen

Für das Reich Gottes wachsam zu sein bedeutet in solchen herausfordernden Zeiten, auch eine große Aufmerksamkeit füreinander zu haben. Denn das Licht leuchtet nicht nur für mich, es leuchtet allen im Haus (vgl. Mt 5,15). Die „Corona-Zeit“ stärkt tatsächlich unsere Wahrnehmung füreinander, besonders für all die Menschen, die an Leib und Seele durch das Virus gefährdet sind: Wir schauen auf die alten Menschen und auf alle, die allein leben. Wir sehen, wie viele Menschen sich um ihre Zukunft sorgen. Wir erkennen, wie wir selbst und andere an Leib und Seele verletzt werden können durch Krankheit, durch Isolation, durch fehlende Kontakte, durch erhöhten Stress in Familie, Schule, Kindergarten und am Arbeitsplatz, durch Angst und Unsicherheit.

Füreinander beten

Gerade wegen aller Vorsichtsmaßnahmen und Beschränkungen, die auf Distanz und auf gegenseitigen Schutz ausgerichtet sind, ist es gut, wenn wir in dieser Advents- und Weihnachtszeit füreinander wachsam bleiben. Auch durch das „Netzwerk des Gebetes“, das unsere Verbindung untereinander stärkt, wird die Aufmerksamkeit füreinander spürbar, auch wenn ein Gebet still gesprochen wird. Wir können füreinander mit offenen Augen beten und vor Gott bringen, wie es uns selbst und den anderen geht. Das Gebet öffnet uns füreinander und kann Kraft schenken, Zeichen des Miteinanders zu geben – vielleicht durch einen Brief oder eine Mail, ein Telefonat, durch Kontakte über die sozialen Medien. Der Ruf Jesu ist eine Einladung zur Aufmerksamkeit für das, was Gott in unserem Leben und in dieser Zeit wirkt. Dazu gehört der Blick auf den Nächsten. Denn: Es gibt keine Gottesverehrung, keine Gottesliebe ohne die Liebe zum Nächsten. Das gehört zum Kern unseres Glaubens.

Zeichen für das Licht Gottes

Die Advents- und Weihnachtszeit ist angefüllt mit schönem Brauchtum und Traditionen, die wir auch in diesem Jahr im Rahmen der Möglichkeiten aufgreifen können. Eine besonders starke Rolle spielt in diesen dunklen Wintermonaten das Licht, das für uns mit dem Licht des Evangeliums verbunden ist. Ich habe mir vorgenommen, in diesem Jahr adventliche Lichter draußen sichtbar an meinem Bischofshaus in der Kardinal-Faulhaber-Straße aufzustellen als Zeichen der Hoffnung, als Zeichen für das Licht Gottes, das auch in den Dunkelheiten des Lebens scheint. Vielleicht können Sie das in Ihren Wohnungen, Häusern und Gärten auch tun.

Es gibt - auch im Rahmen der aktuellen Pandemie-Schutzmaßnahmen - viele Möglichkeiten in der Familie, in der Pfarrei, in unseren Gemeinschaften, unser Brauchtum mit Leben zu füllen. Denn: Advent und Weihnachten fallen nicht aus!

Vergelt's Gott für alle Mühen

Ich höre aus den Pfarreien, Verbänden und Einrichtungen, wie viele gute Ideen es gibt, um auch in „Corona-Zeiten“ Advent und Weihnachten zu feiern und die Botschaft des Evangeliums sichtbar und hörbar zu machen. Vergelt’s Gott für alle Mühen und alles Engagement! Gerade auch im Blick auf all jene, die allein leben, die in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen, in Senioren- und Pflegeheimen leben, in Krankenhäusern und vielen sozialen Einrichtungen.

Ich möchte Sie alle ermutigen, liebe Schwestern und Brüder, die kommenden Wochen des Advent und der Weihnachtszeit mit Zuversicht und Hoffnung miteinander zu gestalten und zu feiern - in Ihren Familien und Nachbarschaften, in Pfarreien, Gemeinschaften, Schulen und Kindertagesstätten, in Ordensgemeinschaften, Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen. Von Herzen danke ich allen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, allen haupt- und ehrenamtlich Engagierten in unserem Erzbistum, die die Wachsamkeit der Adventszeit und das Licht von Weihnachten durch ihr Tun und Denken und Beten stärken!

Gott ist Mensch geworden! Das Licht dieser weihnachtlichen Botschaft wird nicht erlöschen. Denn: Gott selbst ist das Licht und er ist und bleibt bei uns!

Ich wünsche Ihnen allen eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit! (Kardinal Reinhard Marx)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Advent & Weihnachten