Klagemauer in Jerusalem

Sehnsuchtsort der Juden

Mauern trennen die Menschen voneinander. So wie die Mauer an der deutsch-deutschen Grenze, die vor genau 32 Jahren fiel. Die Klagemauer in Jerusalem aber verbindet Menschen - in ihrem jüdischen Glauben.

Nikodemus Schnabel vor der Klagemauer in Jerusalem. © Nikodemus Schnabel

Jerusalem – Nur ein paar hundert Meter sind es für Pater Nikodemus Schnabel von seiner Dormitio-Abtei zur berühmten „Klagemauer“.  „Der Begriff ist von Christen geprägt“, erklärt Pater Nikodemus. Denn sie sahen, wie die Juden an der Mauer klagten und weinten. Und zwar aus Kummer über die Zerstörung des zweiten jüdischen Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Von diesem Tempel blieb nur die westliche Stützmauer des Tempelareals übrig – die „Westmauer“, wie die Juden zur Klagemauer sagen. Auch für heutige Juden sei das ein ungeheuer symbolbeladener Ort, eine heilige Gebets- und Pilgerstätte, erklärt Benediktinerpater Nikodemus. Der Ordensgeistliche ist bereits mehrere Jahre im Heiligen Land, das Kloster seines Ordens liegt direkt in der Innenstadt von Jerusalem.

Die Westmauer ist 18 Meter hoch und 48 Meter lang, gebaut wurde sie in drei Phasen: 19 v. Chr. baute Herodes der Große einen prächtigen Tempel und mit ihm die Westmauer. Darüber ist eine zweite Schicht aus der früh-islamischen Zeit im 8. Jahrhundert zu sehen. Aus dieser Zeit der Eroberung Jerusalems stammt auch der berühmte Felsendom mit der goldenen Kuppel. Die dritte Schicht stammt aus der Zeit der islamischen Herrschaft nach den Kreuzzügen, also dem 13. - 15. Jahrhundert.

Ein Gedenken an den zerstörten Tempel

Heute sind die Westmauer und der Platz davor eine Synagoge. Rund um die Uhr kommen Juden hierher zum Gebet, über Kameras wird das Geschehen auf dem Platz in alle Welt übertragen, können Gläubige mit der Klagemauer verbunden sein. Am Freitagabend begrüßen die Juden hier den Sabbat. „Es ist für alle Jüdinnen und Juden ein Sehnsuchtsort“, sagt Pater Nikodemus. Denn für die Juden sei der Tempel von enormer Bedeutung gewesen, wie sich im Alten Testament nachlesen lasse. Die Zerstörung dieses Tempels habe die Juden ungeheuer mitgenommen und belastet, die Klagemauer ist heute noch spirituell extrem aufgeladen.

Nicht nur für die zahlreichen betenden Gläubigen, auch für Touristen ist die Klagemauer natürlich einer der Anziehungspunkte bei einem Jerusalembesuch. Relativ locker geht es hier zu. Auch Nichtjuden dürfen sich der Mauer nähern und sie sogar berühren. Allerdings wird darauf geachtet, dass Männer nur mit bedecktem Kopf an die Mauer herantreten. Auffallend ist, dass es zwei getrennte Areale für Männer und Frauen entlang der Mauer gibt. Denn in Jerusalem ist das orthodoxe Judentum tonangebend, das sehr strikt auf diese Trennung drängt. In jüngster Zeit sind Bewegungen entstanden, die das kritisieren: „The women of the wall“ wollen einen gleichberechtigten Zugang zu den Grundlagen: gemeinsame Gesänge, Lesungen aus der Tora mit Männern und Frauen an einem Platz. Eine Plattform für ein gemeinsames Gebet gibt es bereits neben der sogenannten „Marokkanerbrücke“, etwas abseits der Klagemauer. Die Bestrebungen, für liberale Juden einen gemischten Bereich und für orthodoxe Juden getrennte Bereiche einzurichten sind noch in der Umsetzungsphase.

Anliegenzettel in der Klagemauer

Weltberühmt wie die Mauer selbst sind auch die Zettel, die von gläubigen Juden in die Ritzen zwischen die Mauersteine gesteckt werden: Darauf stehen Danksagungen, Gebete und Wünsche. „Diese Zettel sind vergleichbar mit den Fürbittbüchern, die in manchen christlichen Kirchen aufliegen. Seine Gebete aufzuschreiben, ist eine ganz starke Form, sein Herz vor Gott auszuschütten!“, erklärt Pater Nikodemus. Zweimal im Jahr werden Tausende dieser Anliegenzettel aufgesammelt und aus der Mauer entfernt. Sie werden ungelesen auf dem jüdischen Friedhof am Ölberg begraben.

Für die Christen hat die Klagemauer und der ganze Bereich im ehemaligen Tempelbezirk natürlich nicht die existenzielle Bedeutung wie für Jüdinnen und Juden. Auch wenn Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus hier gebetet haben, um darauf aufmerksam zu machen, wie eng christlicher und jüdischer Glaube zusammenhängen. Deshalb ist Pater Nikodemus auch nicht allzu oft in der direkten Umgebung der Klagemauer. Ganz abgesehen davon, dass ein christlicher Ordensmann nicht unbedingt nur freundliche Blicke erntet, wenn er im jüdischen Viertel unterwegs ist.

Aber der Benediktiner hat einen Ort gefunden, der ihm auch die Klagemauer nahebringt: von einem Aussichtspunkt, etwa an der Schnittstelle der vier Viertel in Jerusalem, kann er die Westmauer mit den vielen betenden Juden sehen und gleichzeitig die al-Aqsa-Moschee der Muslime und die christlichen Kirchen auf dem Ölberg, beschreibt Pater Nikodemus den einzigartigen Blick. „Damit sehe ich alle drei Religionen auf einmal, sehe die Beter und Gottsucher und es berührt mich, dass ich in dieser Stadt Gottsucher unter Gottsuchern sein darf.“