Aus der Coronamüdigkeit

Sehnsucht nach Lebendigkeit

Einschränkungen, Verzicht, Stagnation - Nach einem Jahr mit Corona ist der Hunger auf Aktivität groß. Keine Pandemie kann diese Sehnsucht zerstören.

Die Corona-Pandemie lässt die Menschen weiter sehnsüchtig auf mehr Lebendigkeit warten. © drubig-photo - stock.adobe.com

Über Lebendigkeit nachzudenken, das passiert kaum, wenn das Leben Purzelbäume schlägt. Lebendigkeit scheint ein sommerliches Wort zu sein. Die Tage vergehen wie im Flug, die Monate, die man draußen verbringt, wenn Sonnenschein und Temperatur es zulassen. Ein lebendiger, vitaler Mensch zu sein, das ist Leben in bevorzugter Form.

Tiere befinden sich im Winterschlaf, Rückzug ist angesagt. Ab und an sieht man ein Eichhörnchen, das Nahrung sucht. Es ruht die belebte Welt. Vielleicht fragen sich Tiere auch, warum Menschen in diesem Winter Mangelware sind. Wäre es vermittelbar, könnten wir ausrichten: Corona-Stagnation. Herumsitzen verboten, die Gesundheit ist gefährdet. Ein lahmgelegter, in die Wohnhöhle zurückgedrängter Mensch zu sein, das ist Leben in beklemmender Form.

Interesse am Leben

Lebendigkeit schaut anders aus. Sie ist verwandt mit expressiver Natürlichkeit und Spontaneität, mit Kontaktvielfalt und Freizügigkeit, ist inspirierend und kreativ, sie lässt den Sinnen freien Lauf und liebt die Vielfalt, sie kann impulsiv daherkommen oder still genüsslich, sie erlebt Unterschiedlichkeit als Bereicherung, die Lebendigkeit hat Interesse am Leben. Sie liebt den Erkenntnisgewinn, nicht allein beim Reisen; gerade die Begegnung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen schafft sie. Wo Menschen ins Gespräch kommen, sich austauschen, wo herzliche Teilnahme am Leben der anderen besteht, da werden Vorarbeiten des Rücksichtnehmens geleistet, die in Krisenzeiten wie Fundamente wirken. So fördert der lebendige Austausch ohne Umwege den Frieden.

Sehnsucht nach mehr Leben

Die Lebendigkeit scheint auf den ersten Blick ein urbanes Phänomen zu sein. Städtisch leben sie, die Gelehrten, Künstler, Literaten, Naturwissenschaftler; hier spielen sie, die Orchester und freischaffenden Musiker, die Theaterleute und Schauspieler; hier kommen sie zusammen, die berühmten Stars und Sternchen aus dem Sportbusiness und der schillernden Fußballwelt. Die Stadt leuchtet, nicht nur nachts, wenn sie aus dem Weltall sichtbar ist. Die Stadt und ihre Lebendigkeit scheinen zu keiner Tagesstunde zu ruhen. Der Puls der Zeit scheint messbar am Treiben, am Handel und Wandel in urbanen Gefilden. Athen, Alexandria und Rom wirken fort.

Doch die, die in Städten leben, haben Sehnsucht nach mehr Leben. Die Stadt nämlich frisst Energie. Lange Strecken und Menschenmassen müssen in Stoßzeiten bewältigt werden, Verkehrsnetze kollabieren. Dort, mitten im sprühenden Leben, ereignet sich ein Druckverlust, leer und ausgebrannt fühlen sich Städter oft. Die vermeintliche Aufgewecktheit, die – von außen betrachtet – gelebte Unmittelbarkeit fordert ihren Tribut. Größe und Hektik der Stadt werden als Enge empfunden, die Lebendigkeit ausbremst. Zugegeben, manchmal sind Luxusprobleme auch Probleme.

Das Glück stets woanders suchen

Dann setzt sie ein, die Landflucht – rücksichtsloser Eventtourismus bisweilen. Städter wollen dem Strudel entkommen, bereisen Seen und Berge der Umgebung. Sie brauchen Erholung bei denen, die ja immer erholt sein müssten, weil sie nicht in der Stadt leben, sondern im Paradies der Lebendigkeit, auf dem Land. Irgendwie hat man jetzt Augustinus im Ohr, wenn er sagt, dass man das Glück stets woanders suche, auch wenn das eigene, passgenaue längst in den Händen liege. Glücklich seien immer nur die anderen. Nur sie hätten lebendige, vitale Netzwerke, die trügen, weil die Welt so übersichtlich dort sei – so sagt der depressive, genervte, ausgelaugte, auch der kranke Mensch unreflektiert daher.

Dass es Menschen auf dem Land gibt, die unter Zumutungen der Städter leiden, darauf kommt man selten. Es sei so viel Raum da, um sich aus dem Weg zu gehen. Nirgends sei das Leben so eingeschränkt wie in den Städten. Dass auch auf dem Land kein Gasthaus mehr offen hat, kein Vereinsheim, dass auch da sämtliche Aktivitäten auf Eis gelegt sind, dass es auch dort Homeoffice, Homeschooling, Homekindergardening gibt, davon spricht kaum einer. Leben ist ein Begriff, der alle angeht, in der Stadt und auf dem Land.

Intensive Momente des Daseins

Die Lebendigkeit, die Sehnsucht nach ihr, ist ein Thema geworden. Über ein Jahr schlagen wir uns mit Corona herum. Die Hoffnung, dass die alte Vitalität wiederkomme, diese Hoffnung lässt sich kaum einer nehmen. Wir lieben es einfach, das bunte Leben – das freie Spiel der Kinder, den Gang in die Buch- und Weinhandlungen, das Schlendern durch die Gassen eines historischen Städtchens, die Ortswechsel in Freizeit und Urlaub, die Kreativität und Bereicherung durch das gesellschaftliche Leben, die Freiheit, Ärzte, Kleidung, Autos und vieles mehr frei wählen zu dürfen.

Das liberale, vitale, lebendige Leben liebt auch die Erfahrung von Kraft und Energie, von Freude an der Bewegung, von herzlichen zwischenmenschlichen Begegnungen. Die Lebendigkeit will die Intensität des Erlebens, Menschen erleben sich als lebendig in intensiven Momenten des Daseins. Deshalb werden solche Momente gesucht und sogar in einer Freizeitindustrie produziert, um sich selbst zu spüren. Corona ruft die Sehnsucht nach Lebendigkeit ins Bewusstsein, laut und vehement. Solange Blut in den Adern fließt, wollen wir leben und rüstig bleiben, Grenzen ausreizen, Humor, Charme und Witz genießen.
(Björn Wagner, Leiter des Pfarrverbands Trudering und der Pfarrei Christi Himmelfahrt)

Einschränkungen, Entbehrungen und (Zukunfts-)Sorgen nehmen derzeit einen großen Raum im Leben vieler Menschen ein. Auch die diesjährige Fasten- und Osterzeit wird pandemiebedingt unter ganz besonderen Umständen begangen. Das katholische Medienhaus Michaelsbund möchte deshalb Impulse der Hoffnung und Zuversicht aussenden und fragen Vertreter aus Kirche, Politik und Gesellschaft, was es für sie bedeutet, lebendig zu sein.

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Corona - Pandemie