Interview mit Pastoraltheologe

„Pfarrei 2030“ - die Gemeinde der Zukunft

Immer mehr Kirchenaustritte, die Kirchen sind leer und es gibt zu wenig Priester – düstere Aussichten für die Pfarreien.

© imago images Rudolf Gigler

München/Wien – Schon seit einiger Zeit machen sich Haupt- und Ehrenamtliche Gedanken, wie die katholische Gemeinden in Zukunft aussehen könnten. „Pfarrei 2030“ – das haben deutschlandweit schon mehrere Bistümer zum Projekt gemacht. mk online hat mit dem österreichischen Pastoraltheologen Prof. Dr. Paul Michael Zulehner über seine Prognosen für die Pfarrgemeinden gesprochen. 

mk online: Die Individualität von Lebensentwürfen nimmt in unserer Gesellschaft zu, ebenso die Zahl der Kulturen und Religionen: wie antworten die Pfarrgemeinden in den nächsten Jahren darauf?

Prof. Dr. Paul Michael Zulehner: Im Evangelium geht es in erster Linie nicht um Lebensentwürfe, auch nicht darum, moralische perfekt zu sein oder in einer intakten Ehe zu leben. Richard Rohr, ein Mystiker aus New Mexico, formulierte es jüngst so: „It is not necessary to be perfect, but to be connected. (Es kommt nicht darauf an, moralisch perfekt, sondern (mit Gott) verbunden zu sein!“ Die Kernfrage für alle Menschen wird künftig lauten, wieweit die „Wirklichkeit“ reicht, die sie mit ihrer unbehausten Seele bewohnen. Ist für sie mit dem Tod alles aus, oder sind sie in einem Geheimnis daheim, das wir Gott nennen, und der in allem was ist, innerlich anwest. Solche Menschen leben jetzt schon wie im Himmel, und durch sie kommt der Himmel auf die Erde – in Spuren wenigstens. Kurzum: Es geht nicht um Strukturen und Strategien, sondern darum, dass durch uns Christinnen und Christen jetzt schon ein wenig Himmel auf die Erde kommt: Früchte des Himmel-Bereichs sind aber, so Paulus, Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit und vor allem Liebe.

Wie kann die christliche Botschaft vor alle an die jüngere Generation vermittelt werden, so dass in den Pfarreien der Glaube lebendig bleibt?

Zulehner: Glaube wird nicht so einfach „vermittelt“, wie wir es gern hätten. Vergeblich reden uns schon geraume Zeit im Religionsunterricht, in Katechesen und Predigten den Mund fransig. Stattdessen kommt es darauf an, dass wir selbst uns der Jesusbewegung anschließen und in seinem Sinn in ganz konkreten Projekten die Welt so mitgestalten, dass diese ihr menschliches Gesicht nicht verliert. Eben bei solchen Projekten machen junge Menschen durchaus mit, wie ich aus meiner Erfahrung etwa in der Pfarre Weiz in der Oststeiermark weiß, die durch die „Weizer Pfingstvision“ bekannt wurde.

Wie schätzen Sie Pilotprojekte wie das im Erzbistum München und Freising ein, wo in drei Pfarrverbänden, verteilt auf die Erzdiözese, probeweise Haupt- und Ehrenamtliche auf Augenhöhe die Geschicke der Pfarreien lenken?

Zulehner: Seit der Mitte des vierten Jahrhunderts, so schrieb der damalige junge Professor Joseph Ratzinger, sei die „christliche Brüderlichkeit“ der Kirche abhandengekommen. Seither haben wir eine innerlich gespaltene Kirche: Hier der Klerus, dort die Gläubigen. Fachleute nennen es „pastorales Grundschisma“. Das Konzil wollte diese klerikale Priesterkirche umbauen. Aber das ist bei uns kaum geschehen. Vielmehr haben wir sie dank kräftiger Finanzen nur modernisiert. Es kamen zum Klerus Haupt- und Ehrenamtliche dazu, die das Pfarrvolk versorgen, lenken und mit Angeboten beglücken. Wir werden noch viel Phantasie brauchen, um dieses ererbte und modernisierte pastorale Grundschisma zu überwinden. Wir denken viel zu viel von der Leitung eines Pfarrbetriebs her statt von einer Gemeinschaft von Menschen, die sich entschieden haben, sich der Jesusbewegung am Ort anzuschließen. Dieser herkömmliche Pfarrbetrieb ist an sein Ende geraten. Zurzeit liegt er quasi auf der Intensivstation.

Wie schafft es die katholische Kirche, genügend Interessenten für den Priesterberuf, aber auch für Tätigkeiten als Diakon, Pastoralreferenten oder Gemeindereferenten zu gewinnen? Wie erlangen diese Berufe neue Attraktivität?

Zulehner: Die Antwort auf die vorangegangene Frage zeigt, dass auch diese Frage selbst noch im alten Kirchensystem gefangen ist. Die Kernfrage ist nämlich nicht, wie es mehr Priester und andere Hauptamtliche geben kann, sondern wie - auch junge - Menschen gewonnen werden können, sich der von Jesus in Gang gesetzten Bewegung anzuschließen. Unter diesen Entschiedenen werden viele sein, welche Begabungen haben und diese in die Gemeinschaft der Jesusbewegten einbringen. Dann wird sich auch jemand finden, der Leitungsaufgaben übernimmt. „Einer, der euch leitet“ steht übrigens unter den vielen Charismen in der Gemeinde in Korinth weit hinten. Ganz oben stehen jene, die durch ihr Leben das Evangelium anschaulich machen.

Ist ein Schrumpfen der kirchlichen Angebote vor Ort, in den Gemeinden und Pfarrverbänden, angesichts personeller und finanzieller Engpässe, unausweichlich?

Zulehner: Wir haben zu sehr das Bild vor uns, dass eine Pfarrei ein Dienstleistungsbetrieb ist, der attraktive Angebote macht. Aus der Bibel lässt sich aber eine andere Vision herauslesen: Diejenigen, die sich der Jesusbewegung anschließen, bilden eine Gemeinschaft, die Dienste leistet: sie leben das Evangelium auf der Seite der Armen, sie erzählen von ihrer Hoffnung über den Tod hinaus, sie feiern das Mahl, das Jesus uns geschenkt hat. Diese Gemeinschaften sind, so der niederländische Pastoraltheologe Jan Hendriks, wie Herbergen, die ganz offene Türen haben und deren Markenzeichen engagierte Gastfreundschaft ist. Natürlich werden sich mehrere Herbergen in einem „pastoralen Raum“ vernetzen und so gut sie können gemeinsam Projekte machen, die den Menschen im Land dienen – in der Bildung, in der Caritas, bei der Unterstützung von Eltern und ihren Kindern. Und weil es in absehbarer Zeit vielleicht keinen Kirchenbeitrag geben wird, mit dem wir den herkömmlichen Dienstleistungsbetrieb am Leben halten, werden die Menschen in den Herbergen gemeinsam die Projekte finanzieren und wie jede NGO Fundraising machen.

Was ist, wenn die Gläubigen neue Strukturen und Verkündigungsformen, die ja in manchen Bistümern schon konkrete Formen annehmen, nicht mittragen? (Im Bistum Trier hatte die Zusammenfassung von 172 Pfarrgemeinschaften zu 35 „Pfarreien der Zukunft“ für massive Proteste gesorgt)

Zulehner: Jesus verwendet einmal das Bild von den alten Schläuchen und dem jungen Wein. Das lässt sich auch gut auf unsere derzeitige kirchliche Entwicklung anwenden. Wir flicken die Schläuche, dabei haben wir kaum jungen Wein. Wenn aber junger Wein da wäre, könnten für diesen auch neue Schläuche gemacht werden. Im Übrigen hat Rom das Konzept in Trier leider aus klerikalen und nicht pastoralen Gründen abgelehnt. Solche hätte es durchaus gegeben: Der Strickfehler mancher Strukturreformen besteht darin, dass es letztlich hilflose Versuche sind, eine sterbende Kirchengestalt herunterzufahren und den Priestermangel administrativ in den Griff zu bekommen. Bei der Suche nach der neuen Kirchengestalt muss zuerst die Frage stehen: Welcher pastorale Vorgang braucht welchen Raum. Dabei wird sich zeigen, dass der Kernbereich sehr lokal ist, der Raum für Dienste aber eher überpfarrlich erscheint. Das zeigen zumindest empirische Studien.

Ist eine Erneuerung der Kirche von unten, von den Pfarreien aus, eine Chance, mit Themen wie Frauenordination, Priestermangel, Zölibat etc. umzugehen?

Zulehner: Auch hier kommt es wiederum auf den Zugang zur Frage an. Wenn ich im Rahmen des sterbenden Kirchenbetriebs denke, dann sind die genannten Reformen Instrumente, um den Mangel an Priestern abzumildern. Wenn ich aber beim Evangelium beginne, bei der Jesusbewegung ansetze, die Nachfolgegemeinschaften entstehen lässt: dann werden sich die genannten Reformen alsbald von selbst einstellen. Man wird in den Gemeinschaften des Evangeliums „erfahrenen Personen“ finden, die für Leitungsdienste ausgebildet und dazu auch ordiniert werden. Das ist nur eine Frage der Zeit. Diese Hoffnung habe ich in den Heiligen Geist, auch wenn sie mir schon ein Redeverbot bei Pfarrgemeinderäten in einer österreichischen Diözese eingebracht hat: Ich dürfe nicht mehr eingeladen werden, weil ich (diesbezüglich) den Leuten zu viel Hoffnung mache

Der Autor
Willi Witte
Radio-Redaktion
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