"Haltestellen für die Seele"

Erzabt Öxler über Auszeiten und Adventsstress

In seinem neuen Buch gibt Erzabt Wolfgang Öxler von den Missionsbenediktinern in Sankt Ottilien Impulse für das tägliche Leben. Etwa, wie wir uns die Seele vorstellen können und wie es gelingt, mit den Zumutungen der Welt zurechtzukommen.

Erzabt Wolfgang Öxler (links) und MK-Redakteur Joachim Burghardt im Gespräch in der Buchhandlung Michaelsbund in München © SMB

mk online: Warum braucht unsere Seele Haltestellen?

Erzabt Wolfgang Öxler: Unsere Seele reist langsam, sie hält mit dem äußeren Tempo nicht mit. Damit sie nachkommen kann, braucht sie Haltestellen. Der heilige Benedikt unterbricht immer wieder den Tag und sagt: Jetzt ist Schluss mit Arbeit, jetzt gib deiner Seele Raum. Auch Jesus hat sich immer wieder zurückgezogen.

Fällt es im Kloster leichter, Haltestellen für die Seele zu finden?

Öxler: Auf alle Fälle, denn wir haben einen Rhythmus und eine Ordnung vorgegeben. Bei uns läutet die Glocke, dann weiß ich: Jetzt gehe ich zum Gebet. Bei uns herrscht übrigens auch beim Essen Stille, denn der heilige Benedikt sagt: Bei vielem Reden entgeht man der Sünde nicht. Und ich glaube, dass diese Atmosphäre des Schweigens förderlich ist, dass zum Ausdruck kommen kann, was mich im Innersten bewegt.

Im Advent, in der sogenannten „stadn Zeit“, scheinen wir jedes Jahr wieder denselben Fehler zu machen: Wir freuen uns zwar auf Weihnachten, aber lassen uns doch wieder vom Stress erfassen und klagen darüber...

Öxler: Wichtig ist erst mal die Erkenntnis, dass wir uns freuen können. Wir dürfen uns auf den Erlöser freuen – das muss man sich einfach mal wieder bewusst machen. Der zweite Aspekt ist die Erwartung: Was erwarten wir eigentlich noch? Wir haben doch scheinbar alles! Drittens ist der Adventsstress oft auch eine Art Ablenkungsmanöver: Viele Menschen rennen vor sich selbst davon.

Wir gehen auf das zweite Weihnachtsfest in Corona-Zeiten zu. Hat der Seele die Ruhe während des Lockdowns auch gutgetan?

Öxler: Die Pandemie hat den Menschen vor Augen geführt, in welchem Wahnsinn wir eigentlich leben. Viele haben sich wieder gefragt, was wirklich wichtig ist. Andererseits hat die Seele bei vielen Schaden genommen, vor allem wenn wir uns nicht mehr nahekommen dürfen. Das hinterlässt Spuren.

In Ihrem Buch nennen Sie die Seele „Gottes Wohnung im Menschen“, einen „Kompass“ fürs Leben oder auch eine „Antenne zu Gott“. Was ist die Seele eigentlich?

Öxler: Die Mystiker haben von einem „Seelenfunken“ gesprochen, einem Licht, das den Menschen zum Ebenbild Gottes macht, das auch seine Würde ausmacht. Andere haben die Seele ihre „innere Burg“ oder ihren „heiligen Raum“ genannt. Ich würde sie nicht mit einem Organ vergleichen, eher mit einem inneren Raum, in dem Gott wohnt, mich liebt und zu mir spricht.

Wie ist das bei Menschen, die nicht an eine Seele glauben – wohnt Gott auch in ihnen oder „steht da die Wohnung leer“?

Öxler: Ich glaube, dass Gott da genauso wohnt. Gott ist da, wir müssen nur die Tür zu ihm öffnen.

Sie schreiben, alles drehe sich um Arbeit und Erfolg, der berufliche Erfolg habe aber nichts mit dem Lebenssinn zu tun. Heißt das, wir sollten berufliche Ambitionen und Karriereplanung lieber hintanstellen?

Öxler: Natürlich soll man sich in der Arbeit engagieren und darf erfolgreich sein. Aber das ist nicht die Grundlage unseres Lebens. Der Erfolg allein gibt mir keinen Sinn. Wichtiger ist, zu wissen, wofür ich eigentlich da bin. Wer nur die Karriereleiter und nicht die Himmelsleiter im Sinn hat, kann schnell abstürzen.

Unsere Tage sind oft komplett mit Arbeit, Sorgen und Medienkonsum ausgefüllt, es gibt kaum Freiräume. Was ist eigentlich so schwer daran, sich zwischendurch Phasen der Ruhe und der Stille zu gönnen? Gibt es insgeheim eine Angst vor der inneren Stimme?

Öxler: Die Menschen haben immer schon versucht, von ihren Gedanken wegzukommen. Doch Gedanken sind wie Affen: Schickst du sie nach vorne weg, kommen sie von hinten wieder hoch. Und manchmal denken die Leute auch einen Schmarrn zusammen, bilden sich ein, was jemand vielleicht über sie denkt … Unser Herz braucht einen Türhüter, der nicht alle Gedanken hineinlässt, denn es gibt vieles, was uns nicht guttut. Und die meisten wissen sogar, was ihnen nicht guttut.

Was kann ich konkret tun, wenn ich wieder einmal kurz davorstehe, etwas zu tun oder zu denken, von dem ich weiß, dass es mir nicht guttut?

Öxler: Man kann es mit einem kurzen Gebetsruf versuchen, wie „Herr, sei du die Burg meines Lebens!“, und die schlechten Gedanken förmlich wegschleudern. Man kann auch den Tag mit einer Bitte beginnen, indem man sich bekreuzigt und sagt: „Herr, sei in meinen Gedanken und in meinem Herzen – und trag mit, wo ich heute zu tragen habe!“ Das hilft.

Sie schreiben auch über die Widerstandskraft unserer Seele und finden, wir sollen Widerstand leisten gegen die Zumutungen der Welt. Was sind das für Zumutungen? Mutet uns Gott etwas zu, oder sind es menschengemachte Zumutungen?

Öxler: Ich glaube schon, dass uns auch Gott etwas zumutet. Mir zum Beispiel hat er zugemutet, Abt zu sein ... Aber eine Zumutung muss nichts Schlechtes sein. „Zumutung“ heißt auch, dass mir Mut zugesprochen wird. Wir sollen aufstehen, uns hinstellen und nicht resignieren!

Das Johannes-Evangelium erzählt von der Frau aus Samaria, die am Jakobsbrunnen Jesus begegnet und nach dem Leben dürstet. Ausgehend davon ermutigen auch Sie dazu, nach der ganzen Fülle des Lebens zu dürsten. Das ist kein Aufruf zu Bescheidenheit, zum geräuschlosen Sich-Einfügen oder gar zum „Mundhalten“, sondern ein Plädoyer dafür, im Leben aufs Ganze zu gehen, oder?

Öxler: Auf alle Fälle! In die Vollen! Und so wie Jesus die Frau in ihrer Sehnsucht nach Liebe ernstgenommen hat, müssen wir auch heute in der Kirche die Menschen mit ihrer Sehnsucht ernstnehmen. Jesus ist keiner, der sagt: „Jetzt mach mal auf bescheiden!“ Manche haben übrigens auch vom Kloster ein falsches Bild – so als ob wir da völlig zurückgezogen lebten, uns am Ende noch geißeln würden … Nein, es geht darum, dass wir in Fülle leben. Das ist mehr, als nur zu essen und zu trinken und Spaß zu haben. Und wenn ich vor einer Entscheidung stehe, sollte ich mich für das entscheiden, was mich lebendiger macht.

Auch in der katholischen Kirche gibt es eine große Sehnsucht, neu aufzubrechen. Beispielsweise wünschen sich viele Frauen die Fülle der Teilhabe am kirchlichen Leben. Wie erleben Sie diese Entwicklung?

Öxler: Ich erlebe gerade eine große Gespaltenheit in der Kirche – zwischen denen, die alles so behalten wollen, wie es war, und denen, die etwas Neues wollen. Persönlich glaube ich, dass wir die Botschaft lebendiger gestalten und zu den Menschen gehen müssen. Die Kirche steht vor einem Umbruch!

Zum Thema Wandel ziehen Sie auch einen Vergleich zwischen Menschen und Raupen: Wir seien oft im „Raupendasein“ verhaftet, das nur aus Fressen und Schlafen besteht, und übersähen, dass wir einmal zu Schmetterlingen werden können. Steht uns also eine große Verwandlung bevor?

Öxler: Ja, und das beginnt damit, dass wir unseren Tod täglich vor Augen haben sollten. Unser Raupendasein wird einmal ein Ende haben, und uns ist der Himmel verheißen. Das gibt meinem Leben Sinn und verwandelt es!

Sie erinnern auch an die Bedeutung des rechten Augenblicks...

Öxler: ...der immer in der Gegenwart liegt! Viele trauern verpassten Gelegenheiten nach, anstatt darauf zu schauen, welche neuen Chancen sie in der Gegenwart haben. Es gibt günstige Augenblicke, in denen jetzt etwas geschehen muss – ein wichtiges Gespräch oder dass ich meiner Gesundheit etwas Gutes tue. Leben kann ich nicht in der Zukunft oder in der Vergangenheit, sondern nur im Jetzt.

Daraus folgt, dass es „Haltestellen“ geben muss, um für solche Augenblicke empfänglich zu bleiben, oder?

Öxler: Ja, wir müssen Pausen einlegen und hinhören. Der heilige Benedikt sagt, wir sollen mit den „Ohren des Herzens“, also auf einer tieferen Ebene hören. Wo ich mein alltägliches Leben unterbreche, kann ich einen „Einfall“ haben, da kann dann auch Gott in mein Leben „einfallen“.

Wie gelingt es Ihnen persönlich, trotz vieler Verpflichtungen immer wieder zur Ruhe zu kommen?

Öxler: Durch die festen Gebetszeiten im Kloster, die Rhythmus und Pausen schaffen. Aber ich mache auch persönlich vor dem Schlafengehen eine Meditation: Ich suche drei Ereignisse des Tages, für die ich dankbar bin, und halte sie vor Gott hin. Aber auch negative Erlebnisse und zwischenmenschliche Schwierigkeiten versuche ich bei zu Gott „abzugeben“. Und immer wieder unternehme ich Spaziergänge. Das sind alles einfache Dinge, die aber Disziplin erfordern. Manche sagen: „Ihr lebt ja im Kloster, ihr habt ja quasi die Weisheit mit dem Löffel gefressen“ – Schmarrn, auch ich muss jeden Tag neu Ja sagen!

Und wie überwindet man den inneren Schweinehund?

Öxler: Aus der Erfahrung heraus, dass es mir guttut. Ich weiß ja: Wenn ich mich jetzt aufraffe, aufbreche und hinausgehe, dann komme ich anders zurück. Wir können auch Gott bitten: „Jetzt hilf mir mal, dass ich wieder in die Gänge komme!“

Buchtipp

Wolfgang Öxler: Haltestellen für die Seele

Erzabt Wolfgang Öxler bietet 14 thematische "Haltestellen" an, die Grunderfahrungen unseres Lebens aufgreifen und im Licht des Glaubens richtig einzuordnen helfen. Es sind Betrachtungen, von großformatigen Farbfotos begleitet, die von alltäglichen Lebenserfahrungen ausgehen, von Gedichten oder Geschichten, Liedtexten, Zitaten berühmter Menschen, Weisheitstexten aus unterschiedlichen Kulturen und Epochen, biblischen Texten oder Psalmen, religiösen Überlegungen, oft auch aus der Ordensregel des hl. Benedikt.

25 € inkl. MwSt.

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