Premiere nach zweijähriger Pandemie-Verzögerung

Oberammergauer Passionsspiel als Antwort auf den Zustand von Gesellschaft und Kirche

Am Samstag war es soweit: In Oberammergau wurde die Premiere der Passionsspiele 2022 gefeiert. Was bedeutet die Botschaft Jesu für die Zuschauer in der heutigen Zeit?

„Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ – die Auferstehungsszene ist die letzte Szene der fünfstündigen Aufführung in Oberammergau. © Kiderle

Oberammergau – Es ist nur ein winziger Wortwech­sel in der monumentalen fünf­stündigen Aufführung. „Warum verstehst du meine Worte nicht?“, fragt Jesus Annas, den Schwiegervater des Hohepriester Kaiphas. Und der Alte knurrt nur: „Weil ich sie nicht mag.“ Vielleicht liegt hier ein Schlüssel zu den Oberammergauer Passionsspielen 2022. Am vergangenen Samstag konn­te nach zweijähriger Corona-Verschie­bung bei herrlichem Frühsommerwetter endlich die Premiere stattfinden. Viel Prominenz aus Gesellschaft, Poli­tik, Kultur und Religionen war dazu in das weltberühmte oberbayerische Gebirgsdorf gekommen.

Seitenhieb auf Reformunfähigkeit der Kirche?

Zum vierten Mal nach 1990, 2000 und 2010 hat Christian Stückl als Spielleiter alle Fäden in der Hand. Sein Jesus, den wie schon beim Auftakt 2010 Pressereferent Frederik Mayet ver­körpert, dürfte in der Vergangenheit selten dermaßen desillusioniert und isoliert gewesen sein. Gerade im ersten Teil der Aufführung sind eine große Traurigkeit und fast schon Müdigkeit beim Mann aus Nazareth zu spüren. Lange vorbei scheinen die Zeiten, als er am See die Fischer angesprochen hatte und sie ihm begeistert folgten.

Der Einzug in Jerusalem ist sehr ge­dämpft, das Hosianna schnell verklun­gen, stattdessen überwiegen lange und heftige Auseinandersetzungen mit sei­nen Gegnern aus der Priesterkaste um die starken Kaiphas (Maximilian Stö­ger) und Annas (Peter Stückl). Sie has­sen Jesus wegen seiner mit bebender Stimme vorgetragenen Anschuldigun­gen, die ihre Moral und ihren Lebens­stil betreffen. Der Nazarener ergreift die Option für die Armen und Verach­teten, die „Huren und Zöllner“, wie es ihm seine Gegner oft um die Ohren hauen. Doch bis auf wenige Einzelne denkt hier im priesterlichen Establish­ment keiner ans Umdenken. Ein Stücklscher Seitenhieb auf die Reform­unfähigkeit unserer heutigen Kirche?

Jesus als politischer Messias missverstanden

Auch bei seinen Jüngern und engsten Anhängern erzielt Jesus kaum einen Lerneffekt: Von ihnen wird er zumeist immer noch als der politische Messias missverstanden, der die verhassten rö­mischen Besatzer vertreiben und das Königtum Davids neu errichten soll. Nichts liegt ihm jedoch ferner, er zielt auf innere Umkehr, eine religiöse Wandlung ab. Jesus appelliert wieder und immer wieder an Barmherzigkeit, fordert bedingungslose Nächsten- und Feindesliebe – und stößt auf zahlreiche taube Ohren. „Wer kann das anhören?“, fragt Judas (sehr beeindruckend und überzeugend in seiner vielschichtigen Tragik des verratenen Verräters: Cen­giz Görür) stellvertretend für viele. Wenig später bringt er es auf den Punkt: „Rabbi, ich bete dich an, aber ich bin es müde, zu glauben und zu hoffen.“

Botschaft Jesu in Zeiten von Missbrauchsskandal, Corona-Krise und Ukraine-Krieg

So wird das Passionsspiel zu einer aktuellen Antwort auf den Zustand von Gesellschaft und Kirche im Jahr 2022. Viel Textarbeit sei, so heißt es im Vorwort des Textbuches, unternommen worden, die Fragestellungen hätten sich seit 2010 verschoben, ehemals selbstverständlich bekannte theologische Details seien heute unbekannt, man habe vor allem auch die Fragen nach Sinn und Zukunft mensch­lichen Daseins in den Blick nehmen und wichtige Elemente der Botschaft Jesu für heutige Zuschauer verdeutlichen wollen. Angesichts von Missbrauchs­skandal, Corona-Krise und Ukraine-Krieg ein großes Unternehmen.

Mögen und verstehen wir heute seine Worte? In einem Pressestatement gesteht Stückl selbst: „Wenn dich je­mand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!‘ Diesen Satz können wir nicht ertragen, wir glauben nicht, dass diese Haltung funktioniert. Nicht im eigenen Leben und schon gar nicht in der Welt. Wohin dies führt, sehen wir in der Ukraine, in Syrien, im Jemen oder in Afghanistan und an vielen anderen Orten der Welt.“

Erinnerungen an Gelübde der Oberammergauer im Pestjahr 1633

Ja, die Welt ist heute dunkler als noch ehedem 2010, was auch Bühnen­bild und Kostüme von Stefan Hageneier widerspiegeln: Grobe graue Stof­fe, derbes Leinen, selbst die vor zwölf Jahren noch so knallig-poppigen Far­benräusche der lebenden Bilder sind sehr zurückgenommen und gedämpft. Umso mehr tritt die wunderbare Musik (Chor und Orchester unter der Leitung von Markus Zwink) in Er­scheinung. Alle Sängerinnen und Sän­ger tragen schwarz-weiße bäuerliche Kleidung, die an das Gelübde im Pestjahr 1633 erinnern soll. Erstmals wurde auch an den Beginn eine Szene prologartig vorgeschoben, die den Ur­sprung des Spiels ins Gedächtnis ruft: „Und haben das Gelöbnis gemacht, die Passionstragödie alle zehn Jahr zu hal­ten und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben“, heißt es da. In Pandemie-Zeiten eine starke Aussage und Wirkung.

Aufführungen der Oberammergauer Passionsspiele finden noch bis zum 2. Oktober statt. Es gibt noch Karten.

Stückls Jesus geht trotz aller Widrig­keiten seinen Weg. Schon in Bethanien zitiert er die bekannte Stelle aus Psalm 22: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und von allen verachtet. Alle, die mich sehen, verspotten mich, sperren das Maul auf uns schütteln den Kopf.“

In einer ergreifenden Ölbergszene ringt er sich durch, seine Überzeugung von der Ge­waltlosigkeit konsequent bis zum bitte­ren Ende durchzuhalten: „Ich werde nicht zurückweichen, werde mein Gesicht nicht verbergen vor Schmähung und Speichel“ – so entscheidet er sich bewusst für das Los des leidenden Gottesknechts, den der Prophet Jesaja prophezeit hatte. Niemand raubt ihm diese innere Unantastbarkeit, kein sa­distischer Pilatus (Anton Preisinger), keine wütende Soldateska, weder Qualen noch Kreuzestod. Seinen Geist empfiehlt der Sterbende seinem Vater-Gott. Dann ist es vollbracht. „Friede ruht auf seinem Angesicht“, stellt Jo­hannes (Anton Preisinger jun.) nach der Kreuzabnahme fest.

In der abschließenden Auferstehungs­szene flackert ein kleines einzelnes Feuer in der Dunkelheit, ganz wie in der Os­terliturgie. Langsam wird es weiterge­reicht: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“, ruft Magdalena (Barbara Schus­ter), und der Engel (David Bender) fasst es zusammen: „Glaubt an das Licht, damit ihr Kinder des Lichtes werdet!“

 

Der Autor
Florian Ertl
Münchner Kirchenzeitung
f.ertl@michaelsbund.de