Persönliche Herausforderung

Nächstenliebe – eine kritische Herausforderung

Nicht jeder Akt der Nächstenliebe geschieht aus reiner Selbstlosigkeit heraus. Das hohe christliche Ideal besitzt auch immer einen mächtigen Schatten.

Nächstenliebe hat auch ihre Schattenseiten. © Volodymyr - stock.adobe.com

Allzu oft hören wir den Aufruf zum Einsatz für die Armen, für die, die keinen Helfer haben. Im Hinblick auf das unübersehbare Elend von Millionen, die am Verhungern und Verdursten sind, ist dies mehr als berechtigt. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts machte der kolumbianische Priester Camilo Torres (1929 – 1966) Schlagzeilen. Er war der Priester, der zu den Waffen griff. Er schloss sich der kommunistischen Aufstandsbewegung an und fiel im Kampf. Er gilt als einer der Ersten, der in Südamerika den Blick auf die Menschen im Elend lenkte. Hat er sein Leben für die Armen gegeben?

Dazu ein anderer Name, der für eine andere Form der Nächstenliebe steht: Die deutsche Missionarin und Entwicklungshelferin Schwester Karoline Mayer (geboren 1943 in Eichstätt), die in Chile zur Lichtgestalt wurde. Sie ging in die Elendsviertel und teilte dort mit den Armen ihr Leben, nahm politisch Verfolgte auf. Bei ihr legten selbst Bewaffnete ihre Pistolen ab. Daraus wurde ein Werk, das heute Tausende mit Bildung und Nahrung versorgt. Auffallend ist die Atmosphäre, die sie verbreitet. Wenn sie auf der Straße erscheint, sieht man freundliche Gesichter, es fallen ihr Menschen um den Hals, küssen ihre Hand und drücken „den Engel aus Deutschland“. 

Unsichtbarer Schatten der Nächstenliebe

Camilo Torres, aufgewühlt vom maßlosen Elend, war fasziniert von der marxistischen Vision der klassenlosen Gesellschaft als einem urchristlichen Ideal. Er dachte gar nicht daran, dass hohe Ideale einen mächtigen Schatten haben – nämlich die eigenen Ansprüche auf Besitz, Einfluss, Eigennutz. All dies ist mit einer edlen Absicht nicht aus der Welt, sondern arbeitet im Dunklen weiter. Der Schatten des Expriesters war ganz offen der Kampf um die Macht. Dieser war sehr blutig, immerhin 50 Jahre Bürgerkrieg.

Macht bedeutet, seinen Willen, seine eigenen Ideen und Denkweisen anderen aufzuzwingen. Es muss nicht gleich die große Politik sein. Man darf auch an die Mutter denken, die zeitlebens nur für die Familie da war, nie ein eigenes Leben beanspruchte, dann aber im Alter von den erwachsenen Kindern ständigen Einsatz einfordert und sich von ihnen nicht lösen kann. Gerade bei den edelsten Zielen scheint es überflüssig zu sein, sich selbst und seine Motivation kritisch zu hinterfragen. Jedoch kann bei jeder guten Tat auch der geheime Wunsch nach dankbaren Blicken, nach Berühmtwerden oder sogar nach Beherrschung anderer stets mit dabei sein.

Ein entscheidendes Kriterium, ob dieser Schatten bewältigt wird, besteht darin, wie man einander von Mensch zu Mensch im normalen Alltag begegnet – ob auf gleicher Ebene in Freiheit, oder mit der geheimen Absicht, den/die andere/n auf die eigene Seite zu ziehen. „Ich meine es dir nur gut“ ist dabei ein häufig gebrauchtes Wort, das ausgeübten Druck verschleiert.

Nächstenliebe ist Atmosphäre

Liebe im tiefsten Sinn ist nicht etwas, das wir selbst machen, sondern vielmehr etwas, das mit uns geschieht. Sie ist eine Instanz, die uns ergreift, die einander sympathisch macht, die Vertrauen schafft. Es ist die Atmosphäre, in der man sich versteht, wo man einander guttut. Es ist die Kraft, die selbst dann noch wirkt, wenn der geliebte Mensch – Vater, Mutter, Ehepartner – der Betreuung und der Pflege bedarf.

Hierbei kommt es darauf an, wie existentiell tief eine Beziehung geht, wie stark die Liebe ist. Es ist wieder jener Schatten, der Beziehungen nicht gelingen lässt und eine gute Atmosphäre verhindert. Man sucht dann meist alle Schuld bei den andern, beim Ehepartner/in, bei den Oberen der Kirche und der Politik. Deren Schlechtigkeit aufzudecken, scheint die einzige Lösung zu sein.

Die eigene dunkle Seite

In Wirklichkeit hat gerade das, was einem am andern stört, mit der eigenen dunklen Seite zu tun. Man wirft sich gegenseitig dieselben Fehler vor. Hinter der Kritik an der Macht der Höheren steht meist das eigene Machtstreben. Nichts ist aber nötiger, als seinen eigenen Schatten zu erhellen. Darunter fällt alles, was in einem Leben nicht bewältigt ist – Wunden, Leiden, Zorn, nicht gelebtes Leben, nicht erreichte Ziele und vieles andere, das immer weiterwirkt. Dazu bedarf es einer kritischen Selbstreflexion, die Aufmerksamkeit, Zeit, auch Geld und eine/n kompetente/n Begleiter/in erfordert.

Im Grunde geht es darum, sein eigenes Herz kennen zu lernen, um die eigenen Motive zu reinigen. Denn nur in der Mitte unseres Wesens ist jene Quelle, welche ein absolutes Ja zu sich selbst, zu jedem Menschen und zur Schöpfung hervorbringt. (Guido Kreppold, Kapuziner, Psychologe und Buchautor)