Zehn Jahre Haus für Gregorianik

Momentaufnahme

Der fast magischen Faszination des gregorianischen Chorals als gesungenes Gebet kann man sich nur schwer entziehen - sei es als Sänger oder als Zuhörer. Frater Gregor Baumhof OSB vermittelt in seinem "Haus für Gregorianik" seit zehn Jahren die Schönheit dieser Musik - zum Jubiläum mit einer intensiven Choralnacht in der Münchner Mariahilfkirche.

Frater Gregor Baumhof (Mitte) dirigierte die Münchner Scholaren. © Stefan Kiderle)

Das Ensemble von Frater Gregor und zwei befreundete Scholen gestalteten das Jubiläumskonzert. Mit dabei war auch MK-Redakteurin Karin Basso-Ricci (vorne, Sechste von links). (Bild: Stefan Kiderle) © Stefan Kiderle)

Eine intime Reverenz an die Gottesmutter ist das erste Melisma, die erste Tonfolge: „Ave“. Nach einer majestätischen Quarte aufwärts frei schwebend mit Noten ein M in den Raum gezeichnet: „Maria“. Dem Gebetstext folgend widerstehe ich der modernen Gewohnheit, die Neumen zu rhythmisieren, lasse Text und Musik frei laufen, wie wenn man bei einem Spiel etwas auf der Hand balancierend ins Ziel trägt: Der Fluss darf nicht abbrechen, die Musik muss aus dem Moment entstehen. „Möge der Heilige Geist uns die Töne eingeben, wie wir sie heute singen sollen“, hatte Frater Gregor Baumhof gebetet, bevor wir Sänger in die Mariahilfkirche einzogen. Mit unserer Frauenschola aus der Pfarrei Maria Trost gestalten wir die Marien-Choralnacht zum zehnjährigen Bestehen des Hauses für Gregorianik mit, das von dem Niederalteicher Benediktiner geleitet wird.

Den Anfang machte die Schola Cantorum München unter Leitung von Professor Stephan Zippe. Die Studenten der Hochschule für Musik und Theater München in nahezu perfektem, sensiblem Einklang ließen die Messgesänge zu wahrem Gebet werden, so sehr konnte man sich im Klang verlieren.

Als Kontrast zu den weichen Männerstimmen ist im zweiten Teil unsere Frauenschola zu hören unter Leitung von Kirchenmusiker Matthias Privler, selbst ein Mitglied im Ensemble des Fraters. Auch unsere klaren Frauenstimmen verschmelzen immer wieder zu einem Ganzen. Als Sängerin ist man stets von diesem Moment überwältigt, wenn es „einrastet“, wenn alle die gleiche Vokalfarbe, die gleiche Obertonmischung, den gleichen Rhythmus finden. Wie unendlich schwierig es doch ist, wahren Einklang zu erzeugen.

Initialbewegung

Zwischen den Chorälen trägt Christian Schuler eindrücklich Gedichte aus dem Zyklus „Das Marienleben“ von Rainer Maria Rilke vor. Sie treten in intensive Korrespondenz mit den aufgeladenen liturgischen Texten, lassen die Gottesmutter wie durch ein Kaleidoskop zum Leben erwachen.

Stephanie Heim und Emanuel Schmidt, ehemalige Schüler Baumhofs am Richard-Strauss-Konservatorium, steuern Orgelstücke bei wie das „Ave Maris Stella“ von Flor Peeters. Nun singen die Münchner Scholaren, in ausladenden Gesten dirigiert von Frater Gregor. Nach Peeters’ Toccata tragen sie kraftvoll den gleichnamigen gregorianischen Hymnus vor, der gleich darauf in Peeters Fuge verarbeitet wird. So ist es nicht mehr nur historische Gewissheit, dass die Gregorianik die Basis aller Kirchenmusik ist, sondern es wird unmittelbar spürbar, der intensivste Moment des Konzerts.

„Was stilrein ist, versteht sich immer“, weiß Baumhof. Seinen Abschluss findet der Abend so auch in einer letzten Synthese: ein Magnificat mit Antiphon, wie eine „Initialbewegung“ von allen drei Scholen vorgetragen, kombiniert mit vierstimmigen Renaissance-Versen und Orgelimprovisationen. Und über allem schwebt im Altarraum die Taube im Strahlenkranz – der Geist, der den Augenblick schenkt, aus dem heraus alle Musik geboren wird. (Karin Basso-Ricci)

Die Münchner Scholaren gestalten regelmäßig Gottesdienste mit Gregorianischem Choral. Informationen zum Veranstaltungs- und Seminarangebot des Hauses für Gregorianik unter www.gregorianik.org


Nachgefragt

MK: Warum haben Sie gerade ein Marienprogramm für das Jubiläumskonzert gewählt?

FRATER GREGOR BAUMHOF: Als doppeltes Zeichen der Dankbarkeit: gegenüber der Pfarrei Mariahilf, in der ich mit dem Haus für Gregorianik eine Heimat bekommen habe, und für die Schutzpatronin Maria. Auftakt des Jubiläumsprogramms war aber „Gregorianik im Museum“, das wir regelmäßig in guter Kooperation mit dem Bayerischen Nationalmuseum anbieten: ein wunderbares Portal, das Kunst und Musik verbindet. Beide Gegenstände sind sich gegenseitige Verstehensschlüssel. Zudem haben wir mit den Münchner Scholaren am Samstagabend einen Gottesdienst als Choralamt gestaltet.

MK: Worin liegt die Herausforderung, den Choral zu vermitteln?

BAUMHOF: Sie ist gar nicht so groß: Seit 20 Jahren biete ich Seminare an, in denen die Teilnehmer sofort singen. Wie auch mit meinen Publikationen möchte ich nicht nur ein Fachpublikum ansprechen, sondern den Choral allen spirituell Interessierten zugänglich machen. Gerade die einfacheren Gesänge sind wie „Mantren“, mit denen man sie sofort „anzünden“ kann. Die komplizierten Gesänge bereiten ihnen auch nur beim Zuhören ein großes ästhetisches Erlebnis.

MK: Warum spricht der Jahrhunderte alte Choral heute noch Menschen an?

BAUMHOF: Durch seine Einstimmigkeit, seine besondere Modalität und das Fehlen eines Taktes zieht er geistlich-spirituell und ästhetisch interessierte Menschen an. Er bringt ganz bestimmte Empfindungsbereiche in Resonanz. Die Worte erhalten ein Klanggewand und Tiefe. Denn alle Musik geht vom Wort aus und zum Wort hin. Wenig begeistert vom Choral sind allerdings bestimmte Kreise des Klerus. Es gibt pastorale Bedenken, weil viele Gläubige kein Latein verstehen. Dabei lieferte die Gregorianik einst alles, was Hirte und Herde an geistiger Nahrung brauchten. Diese kirchliche Tradition zu verdrängen, ist ein Verlust, denn wer seine Wurzeln nicht kennt, kann auch nicht wachsen.

MK: Welche neuen Projekte erwachsen derzeit aus Ihrer Arbeit?

BAUMHOF: Im Lutherjahr 2017 möchte ich mit Verantwortlichen der Evangelischen Kirche Vortragsabende und Konzerte anbieten. Denn musikalisch war Luther kein Reformator, sondern setzte auf Kontinuität: Die meisten der von ihm komponierten Kirchenlieder sind an gregorianische Hymnen rückgebunden.

(Interview: Karin Basso-Ricci)