Gerechte Gesellschaft

Mehr Wir, weniger Ich

Was muss sich in unserer Gesellschaft ändern, damit sie sozial gerechter und menschenwürdiger wird? Darüber spricht ver.di-Geschäftsführer Heinrich Birner im Interview.

Für Heinrich Birner ist die Grundvoraussetzung für eine gerechtere Gesellschaft, dass die Schere zwischen Arm und Reich geschlossen wird. © artisticco - stock.adobe.com

mk online: Herr Birner, ist unsere Gesellschaft asozial?

Heinrich Birner: Die Gesellschaft selber ist nicht asozial, aber wir haben Wirkungen und Entwicklungen in der Gesellschaft, die dazu führen, dass wir tatsächlich asoziale Verhältnisse haben. Die Spreizung zwischen den armen Menschen und den Reichen wird immer größer, und das ist in der Tat etwas, was man als asozial bezeichnen kann, weil es Menschen gibt, die Mitte oder Ende des Monats nicht wissen, wie sie ihre Lebensmittel bezahlen sollen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die wissen überhaupt nicht, wohin mit ihrem Geld. So eine Gesellschaft ist krank und diese Verhältnisse kann man durchaus auch als asozial bezeichnen.

Ein Symptom dafür ist auch, dass viele Menschen zwei oder drei Jobs stemmen müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen...

Birner: Wenn ich mich mit Beschäftigten im öffentlichen Dienst unterhalte, berichten mir mindestens die Hälfte, dass sie einen Nebenjob haben, zum Beispiel Erzieherinnen, die am Samstag an der Supermarktkasse stehen oder früher, vor Corona, abends in Bars und Gaststätten bedient haben. Da läuft also gehörig was schief. Das lässt sich nur ändern, indem die Löhne steigen oder durch Ballungsraumzulagen.

Wer ist da gefordert: Arbeitgeber oder Politik?

Birner: Die Politik hilft da wenig, weil die Lohnfindung über Tarifverhandlungen stattfindet, also auf der einen Seite die Arbeitgeberverbände oder die Arbeitgeber als Einzelunternehmer und auf der anderen Seite die Gewerkschaften. Leider haben wir in vielen Bereichen viel zu wenig gewerkschaftlich organisierte Menschen, so dass wir dort auch gar keine höheren Löhne durchsetzen können.

Gleichzeitig steigen aber auch Druck und Belastung vieler Arbeitnehmer.

Birner: Stimmt. Aber man muss genau hinschauen. Es gibt die eine Sorte von Arbeitgebern und Unternehmern, die tatsächlich jeden Tag mehr verlangen, also versuchen, immer mehr aus den Menschen herauszuholen, sie produktiver zu machen. Das sind in meiner Sprachkategorie die frühkapitalistischen Unternehmen. Und dann gibt es die ganz neuen, jungen Unternehmen, die Startups, die durchaus ihre Beschäftigten gut behandeln wollen. Hier laufen viele Beschäftigte Gefahr, sich selbst auszubeuten, weil sie so begeistert sind vom Projekt, dass sie nicht merken, wie sie zwischen Arbeitsleben und Privatleben aufgerieben werden.

Dänemark hat da ein interessantes Modell. Hier spielt es nicht die Rolle, dass man von 8 bis 17 Uhr am Schreibtisch sitzt, sondern seine Arbeit, sein Soll erfüllt. Wäre dies ein Lösungsansatz für eine so genannte Work-Life-Balance?

Birner: Ich denke, die Arbeitszeit wird sich in diese Richtung hin entwickeln. Wir müssen dafür allerdings die Rahmenbedingungen fixieren, die Frage nach der Zeit, der Verteilung und auch nach dem Ort der Arbeit. Ich bin als Gewerkschafter natürlich dafür, dass es den Beschäftigten freigestellt sein soll, aber niemand gezwungen wird, seine Arbeitsleistung von zu Hause aus zu erbringen.

Lassen Sie uns auf eines der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft zu sprechen kommen, die Rentner. Immer mehr fallen unter die Armutsgrenze, obwohl sie ein Leben lang gearbeitet haben. Deshalb fischen viele Pfandflaschen aus den Mülleimern.

Birner: Dieses Thema treibt mir die Zornesröte ins Gesicht. Denn es ist ja kein Zufall oder Naturschicksal, dass wir immer mehr arme Rentner bekommen. Es gibt zwei Ursachen dafür: Zum einen ist nach und nach das Rentenniveau abgesenkt worden, zum anderen ist aber spätestens seit der Agenda 2010 auch ein Niedriglohnsektor politisch gewollt etabliert worden. Wenn die Menschen mit Niedriglöhnen in Rente gehen, erhalten sie eine monatliche Zahlung knapp am Sozialhilfeniveau oder darunter. Die Zahl der Rentner, die aufstockende Sozialhilfe beantragen müssen, nimmt deutlich zu. Das ist für mich ein Skandal.

Das Einzige, was also ingesamt helfen würde, wäre eine Erhöhung der Löhne.

Birner: Genau, denn von der Lohnhöhe hängt letztlich ja auch die Rente ab und dass man sich endlich auch eine private Altersvorsorge aufbauen kann.

Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen die Situation verbessern?

Birner: Bei diesem Thema bin ich gespalten. Die Frage ist ja, wie hoch es wäre. Mit 900 Euro ist ja niemandem geholfen. Die zweite Frage lautet: Wer zahlt’s? Ich fürchte, dass es die Mittelschicht trifft, die sowieso schon steuerlich am meisten herangezogen wird, und weil ich mir nicht vorstellen kann, dass dieser Staat, die Politik, tatsächlich eine Vermögens- oder Reichensteuer einführt oder dass die großen Tech-Konzerne wie Apple, Google, Amazon und Co. steuerlich herangezogen würden. Von daher denke ich, dass das eher noch zu einer Ungleichbehandlung der Menschen führen wird.

Wie könnte man es schaffen, dass eine andere Stimmung in dieses Land kommt? Dass man ein wirkliches Miteinander etablieren kann?

Birner: Grundvoraussetzung ist, dass die Schere zwischen den ganz armen Menschen und den Superreichen geschlossen wird. Da ist die Politik gefordert. Solange wir derartig unterschiedliche Verhältnisse haben, wird es Unverständnis und Neid geben. Und die Menschen werden Lösungen suchen, die wir nicht wollen. Die einen rennen den Rechten, die anderen anderen Gurus hinterher. Von daher ist die materielle Basis die erste, die geklärt werden muss. Das Zweite ist, und das können wir alle, dass wir an andere Menschen, an Kollegen denken, ihnen mehr Achtsamkeit schenken und dass diese Achtsamkeit füreinander einen gesellschaftlichen Wert bekommt. Ich kenne etliche Start ups, die das zum Thema machen. Ich hoffe, dass das zunimmt und bald auch generell zum gesellschaftlichen Klima wird: die Achtsamkeit voreinander.

Offensichtlich tickt die jüngere Generation da schon anders?

Birner: Ja, gerade jüngere Unternehmen mit jüngeren Beschäftigten sind das. Ich hoffe und wünsche es mir, dass es dauerhaft so bleibt. Aber eines ist klar: Es muss sich etwas verändern, wir müssen wieder mehr an das „Wir“ denken, also an die Gesellschaft, und weniger an das „Ich“.

Die Autorin
Susanne Hornberger
Münchner Kirchenzeitung
s.hornberger@michaelsbund.de