Papst-Enzyklika „Fratelli tutti“

Mehr wie der Heilige Franziskus werden

Der Papst ruft zu einem umfassenden Neuaufbruch in und nach der Corona-Pandemie auf. Was Kapuzinerprovinzial Christophorus Goedereis sonst noch aus der neuen Enzyklika herausliest, erzählt er im Interview.

Am 4. Oktober erschien die tags zuvor unterzeichnete dritte Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus (wir berichteten). © imago images / Independent Photo Agency Int.

Was ist die Kernaussage der neuen Enzyklika?

Pater Christophorus Goedereis: In „Fratelli tutti“ ruft der Papst zu einem umfassenden Neuaufbruch in und nach der Corona-Pandemie auf. Vor allem mahnt Franziskus zu einem neuen Denken in Sachen soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftspolitik. Und auch die Religionen werden zum Dialog und zum gemeinsamen Beitrag ermutigt.

Welche Passagen haben Sie besonders beeindruckt?

Pater Christophorus: Im ersten Kapitel heißt es: „Die Schatten einer abgeschotteten Welt lassen Verletzte am Wegesrand zurück. Angesichts dieser Wirklichkeit sind zwei Haltungen möglich: weitergehen oder stehenbleiben; einschließen oder ausschließen. Das wird das Wesen des Menschen bestimmen.“ In „Fratelli tutti“ geht es dem Papst um eine neue, universelle Freundschaft sowie um die soziale Verantwortung unter allen Menschen – egal, welcher Nation, Kultur, Religion oder Weltanschauung sie auch sein mögen. „Einen Dialog führen zu können, ist der Weg, um die Welt zu öffnen und soziale Freundschaft aufzubauen“, schreibt Papst Franziskus im sechsten Kapitel des Schreibens. „Der Dialog respektiert, ermöglicht und sucht die Wahrheit; der Dialog lässt die Kultur der Begegnung entstehen, das heißt, dass die Begegnung zu einem Lebensstil, einer Leidenschaft und einer Sehnsucht wird. Wer einen Dialog führt, ist freundlich, er akzeptiert und respektiert den anderen“, heißt es weiter.

Die Notwendigkeit des Dialogs zieht sich durch das gesamte Dokument. Das gilt auch für den interreligiösen Dialog.

Pater Christophorus: So ist es. In der Tradition des Dialogs, den der heilige Franziskus bereits im 13. Jahrhundert mit dem Sultan von Ägypten geführt hat, schreibt der Papst im achten Kapitel: „Die Religionen sind aufgerufen zum Dienst an der Geschwisterlichkeit in der Welt. Aus unserer Offenheit gegenüber dem Vater aller erkennen wir unsere universale Stellung als Brüder und Schwestern.“ An vielen Stellen verweist Papst Franziskus in seinem Text auf den sunnitischen Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmad al-Tayyeb, mit dem er 2019 in Abu Dhabi ein „Dokument der Brüderlichkeit“ unterzeichnet hatte. Ein starkes Zeichen.

Warum ist das Schreiben wichtig für die Kirche und die Gesellschaft?

Pater Christophorus: Weil die Menschheit an einer Wegscheide steht. Die Corona-Pandemie ist dafür nicht der Grund, sondern ein Beschleunigungsfaktor für die drängenden Fragen der Menschheit.

Es ist auch ein politischer Text ...

Pater Christophorus: Franziskus betont in seiner Enzyklika ausdrücklich seine Ablehnung des Unilateralismus. Er schreibt: „Machen wir uns bewusst, dass die Ungerechtigkeit nicht nur Einzelne betrifft, sondern ganze Länder. Sie verpflichtet dazu, über eine Ethik der internationalen Beziehungen nachzudenken.“ Er erteilt an vielen Stellen politisch extremen und intoleranten Haltungen eine klare Absage.

Ist die Enzyklika ein großer Wurf?

Pater Christophorus: Ob es ein großer Wurf ist, vermag ich nicht zu sagen. Vieles von dem, was in „Fratelli tutti“ steht, wurde bereits gesagt, zu einem großen Teil vom Papst selbst. Das macht die Aussagen aber nicht weniger dringlich. Auch das Evangelium bleibt stets neu und aktuell.

Was ist der besondere franziskanische Blick?

Pater Christophorus: Fünf Jahre nach „Laudato si’“ erreicht die Welt ein weiteres globales Grundsatzdokument aus der Feder eines Papstes, der selbst den Namen des Poverello, des kleinen Armen, aus Assisi angenommen hat. Es zeigt uns nicht nur, wie aktuell die franziskanische Spiritualität ist – es zeigt uns auch, dass die Menschheit sich neu für die Grundwerte entscheiden muss, die dem heiligen Franziskus heilig waren: die globale Geschwisterlichkeit, die Menschen am Rande, die Schöpfung, der Dialog der Religionen, die globale soziale Verantwortung, die Umsetzung von fundamentalen menschlichen Grundwerten in Politik und Wirtschaft. Der Grundton, den ich heraushöre, heißt: Wenn wir überleben wollen, müssen wir alle ein bisschen mehr wie Franz von Assisi werden.

Was muss nun folgen?

Pater Christophorus: Das konkrete Handeln im Großen wie im Kleinen.

(Interview: Tobias Rauser, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Deutschen Kapuzinerprovinz in München)