Selbstversuch: Arbeiten im Hospiz

Leben, wo gestorben wird

Im Münchner Christophorus-Hospiz kümmern sich Schwestern und Pfleger um todkranke Menschen. Ihr oberstes Ziel: Die Bewohner sollen sich, so gut es geht, wie zuhause fühlen. Um das zu gewährleisten, braucht es viel Einsatz und vor allem eine Menge Einfühlungsvermögen.

In einem Hospiz wird gestorben - keine Frage. Aber es gibt hier auch jede Menge Leben. (Bild: Fotolia) © Fotolia

München - Langsam löst sich der feste Klammergriff. Die Finger drücken eine Spur weniger in meine Schulter, an der sich der alte Mann festhält. Der harte, verkrampfte Arm erlaubt sich eine kleine Lockerung und sinkt langsam Richtung Bettdecke. Jetzt bloß nicht bewegen, nicht ruckeln, das Körpergewicht am besten nicht verlagern, denn die Entspannung, die Herr T. zulässt, ist nur hauchdünn. Die Muskeln hellwach, in Habachtstellung. Die kleinste Regung und blitzschnell stehen sie wieder unter maximaler Leistung.

Und die ist erstaunlich groß, wenn man bedenkt, dass der Mensch, dem sie gehören, nur noch ein kleines Häufchen Leben ist, unfähig die Augen richtig zu öffnen, zu sprechen oder gar den Körper gezielt in irgendeine Richtung zu bewegen. Hier ist jemand schutzlos, nackt und völlig dem ausgeliefert, was andere mit und an ihm vollführen. Dass dieser Mann sich dennoch mit so einer Vehemenz festkrallen kann, scheint mehr Reflex als alles andere zu sein. Er hat Angst. Er, der dem Tod schon so nahe ist, hat Angst, weil Schwester Ursula ihn auf die Seite rollt, um ihm den Rücken zu waschen. Angst, aus dem Bett zu fallen, hinabzusinken in eine Leere, die ihn vielleicht nicht mehr loslassen wird.

Ursula streicht dem Mann mit den tiefen Wangenhöhlen weiter ganz behutsam mit dem lauwarmen Waschlappen über den knöchrigen Rücken. Die Monotonie ihrer Bewegung und die darin liegende Sanftheit tuen ihr Werk: Der Widerstand ist gebrochen, die mit feinen Äderchen durchzogenen papierenen Augenlider schließen sich fest, der rasselnde Atem durch den offenen Mund wird ruhiger und eine Minute später findet auch der Arm endlich Ruhe auf der durch ein Handtuch geschützten Decke.

Nahezu zeitgleich entkrampfe auch ich mich. Richte meinen Rücken auf, schüttle mir die Haare aus dem Gesicht und merke erst jetzt, dass ich schwitze. Das ist mir unangenehm, schließlich stehe ich erst wenige Minuten da und bin schon so angestrengt als hätte ich bereits die ganze Acht-Stunden-Schicht hier im Münchner Christophorus-Hospiz, wo Menschen zum Sterben herkommen, hinter mich gebracht. Es beruhigt mich ein wenig als ich sehe, dass auch die Profi-Hospizschwester Ursula ein rotes Gesicht hat. Herr T. lehrt mich, dass auch ein vom Krebs völlig ausgezehrter Körper, der kaum unter der Bettdecke zu sehen ist, noch Kräfte entwickelen kann, die ihm keiner zutraut. Erleichtert nehme ich das Wännchen mit dem wolkigen Seifenschaum und leere das Wasser im Waschbecken aus. Der Mann ist eingeschlafen, es riecht frisch und die Geschäftigkeit hat einer Ruhe Platz gemacht, die wohltut.

Ein Wiedersehen wird es nicht geben

Ursula hat das Zimmer bereits verlassen. Ich schaue mir die Fotos in dem großen Bilderrahmen an der Wand an: Herr T. zwischen seinen beiden erwachsenen Söhnen, er blinzelt ein bisschen gegen das Sonnenlicht; Herr T. am Kaffeetisch wie er scheinbar laut lacht und eine Frau ihre Hand auf seinen Arm legt; Herr T. bei einer Wanderung, Bäume und Berggipfel im Hintergrund. Herr T. mitten im Leben und dann das Bett gegenüber, das Herr T. aller Voraussicht nach nie mehr verlassen wird. Sein volles Leben hier, sein endendes da. Ich streiche ihm zum Abschied noch einmal über den beinahe kahlen Kopf, sage Aufwiedersehen und weiß doch, dass es das nicht geben wird.

Draußen auf dem schmalen Gang ist kaum ein Durchkommen. Der Putzwagen auf der einen Seite, der Frühstückswagen auf der anderen. Bruno, der Pfleger, verschwindet hinter der Tür eines Bewohners, während Martin, der Hausmeister, dabei ist, die Deckenlampe zu reparieren. Ein Telefon klingelt, die Köchin Birgit begrüßt freudig eine Frau, und im Stationszimmer riecht es nach Kaffee.

Ja, an diesem Ort wird gestorben, keine Frage. Aber es wird auch gelebt, daran gibt es ebensowenig Zweifel. Und genau das ist es, was die Sache so viel einfacher macht, als ich es mir vorgestellt hatte. Das völlig selbstverständliche Nebeneinander von beidem nimmt dem Sterben, das hier beinahe täglich passiert, seinen Schrecken. Sollte Herr T. beispielsweise nicht mehr aufwachen aus diesem Schlaf, in dem ich ihn zurückgelassen habe, so wird es gut sein und richtig, und er wird bis zu seinem letzten Atemzug unter liebevollen Menschen gewesen sein, deren einziges Ziel es ist, ihm diese letzten Lebenstage so angenehm wie möglich zu machen. Wenn schon sterben, denke ich, dann so. Genau so.

Wie fühlt es sich an, hier zu leben?

Mit diesem Gedanken und einem Tablett mit Kaffee, Frühstücksei und einer halben Semmel mit wenig Butter öffne ich die nächste Türe. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt mich eine weißhaarige Dame, die komplett angezogen, aufrecht auf ihrer Bettkante sitzt. Sie bittet mich, das Tablett auf dem kleinen Tischchen am Fenster abzustellen. Statt im Bett möchte sie gerne im Rollstuhl sitzend frühstücken. Wahrscheinlich wegen des Blicks in den Garten und auf das Vogelhäuschen, das direkt vor ihrem Fenster hängt. Nachdem sie mir erzählt, dass ihr Mann heute um neun Uhr kommen wird, lasse ich sie in Ruhe allein frühstücken.

Hier gibt es nichts weiter zu tun, als das Bett ein bisschen aufzuschütteln und ihr einen schönen Tag zu wünschen. Von der Morgenbesprechung bei Schichtbeginn weiß ich, dass auch der Körper dieser Frau durch und durch von Krebsgeschwüren befallen ist. Wäre ich ihr irgendwo anders begegnet, ich hätte davon nicht das Mindeste bemerkt. Hier aber sehe ich den Perfusor, der ihr kontinuierlich Schmerzmittel zuführt. Morphium, wie ich gelernt habe. Ein Segen, dass damit so viel Leid gemildert werden kann, zumindest das körperliche.

Und was ist mit dem Geist, mit der Seele, mit dem, was uns jenseits unseres Körpers ausmacht? Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn ich in einem dieser acht Zimmer im Ergeschoss leben würde. Könnte ich mich noch freuen an den Besuchen, an den Gesprächen, dem Lieblingsessen, das man mir hier zubereiten würde oder wäre nicht jeder Augenblick vergiftet von den ständigen Gedanken an den Tod, an das Sterben, das Unbekannte, das Dunkle, das Niemehrwieder? Es klappt nicht, ich kann dieses Bild nicht vor mir entstehen lassen. Darüber bin ich nicht traurig und verschiebe es fürs erste auf einen anderen Zeitpunkt.

Quatschen und Qualmen

Jetzt will ich erstmal noch Frau H. besuchen. Auf die bin ich schon die ganze Zeit neugierig. Ursula hat mir erzählt, Frau H. hätte gesagt, dass es ihr noch nie in ihrem Leben so gut gegangen sei wie hier. Merkwürdig. Nicht zu glauben. Jedenfalls will ich wissen, was das für ein Mensch ist, der sowas sagt. Außerdem habe ich zu meiner großen Überraschung erfahren, dass Frau H. in ihrem Zimmer rauchen darf. Auch das kann ich nicht so recht glauben: In einem Krankenzimmer rauchen, wo gibt’s denn sowas? Ursula hat gelacht, als sie mein ungläubiges Gesicht gesehen hat und gesagt: „Die Menschen sollen sich hier möglichst wie zuhause fühlen. Und wir werden nicht von einem Raucher verlangen, dass er damit aufhört.“

Hört sich einleuchtend an, aber eben auch ein bisschen verrückt. Ich klopfe an die Tür, drücke langsam die Klinke nach unten und kann sofort riechen, dass Ursula mich nicht angeschwindelt hat. Hier wird gepafft und Rauch hin oder her, hier ist’s gemütlich. Frau H. lädt mich auf eine Zigarette ein, und das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Und so sitzen wir also, qualmen die Bude voll und reden und reden und reden. Ich vergesse, dass ich hier in einem Zimmer bin, in dem gestorben wird. Es könnte ebensogut das Wohnzimmer von Frau H. sein. Richtig hübsch hat sie es sich hier gemacht. Ein paar eigene Möbel hat sie mitgebracht, viele Bücher, Fotos in schweren Bilderrahmen und allerlei Krimskrams, den ich aus dem Augenwinkel immer wieder wahrnehme.

Man kann über den Tod sprechen - man muss aber nicht

Und ja, auch ihr ungeheuerlicher Satz – nie sei es ihr in ihrem Leben so gut gegangen wie hier – stimmt. Sie wiederholt ihn überzeugend, und auf die Frage, wie das denn sein könne, sagt sie: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Verantwortung, Hier muss ich mich um nichts kümmern. Das ist herrlich.“ Sie bekomme viel Besuch, ihre drei Kinder, einige Freundinnen und ehemalige Kolleginnen, das genieße sie richtig. „Mit meinen Kindern war ich lange nicht mehr so nahe wie jetzt“, sagt sie und lächelt so, dass man ihr auf der Stelle glaubt. Wir sprechen nicht über ihre Krankheit und schon gar nicht über den Tod. Diese Themen passen einfach gerade so gar nicht hierher, und wer sagt denn, dass man darüber sprechen muss, nur weil man in einem Hospiz ist. Als es für mich Zeit wird zu gehen, verabreden wir uns für das nächste Wochenende. Sonntagnachmittag, ich werde Kuchen mitbringen. Ob wir dann über den Tod sprechen werden? Mal sehen. Kann sein, schließlich ist er wirklich ein Teil des Lebens. Nie habe ich die Wahrheit dieses Satz stärker gefühlt als in diesem Moment.

Susanne Holzapfel

 

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Tod und Sterben