Kloster Andechs

Kunstvolle Kolosse in der Kerzenkammer

Wenn Frater Leonhard Winkle in der Andechser Wallfahrtskirche die Tür zur Kerzenkammer aufsperrt, ist es, als öffne sich ein Tor in die Vergangenheit. In dem engen Raum, auch "Wachsgewölbe" genannt, stehen gut 300 Kerzen dicht nebeneinander in geheimnisvollem Dämmerlicht.

Einige Kerzen sind nicht nur mit direkt auf die Oberfläche aufgebrachten Wachsornamenten verziert, wie man es etwa von Taufkerzen kennt, sondern mit regelrechten Votivtafeln in Wort und Bild ausgestattet. © SMB/Burghardt

Viele der Kerzen in der Kammer sind uralt, kunstvoll verziert und mit einem handschriftlichen Etikett versehen, auf dem ein Ortsname und eine Jahreszahl zu lesen sind: „Oberhaching 1709“, „Hohenkammer 1614“, „Dachau 1715/1933“. Beeindruckend ist die schiere Größe der Kerzen: Weit über einen Meter hoch sind die meisten, viele mannshoch und mehr als armdick. Wie Orgelpfeifen stehen sie da, es ist ein märchenhafter wächserner Wald.

In Wirklichkeit handelt es sich bei den meisten dieser Objekte strenggenommen nicht um Kerzen im eigentlichen Sinne, sondern um Kerzenständer. Sie sind überwiegend nicht aus massivem Wachs hergestellt, könnten also nicht selbst angezündet und bis zum Boden abgebrannt werden, sondern sie haben einen hölzernen Kern und sind nur außen mit einem Gemisch aus Bienenwachs und Stearin überzogen. Obendrauf kann eine kleine „echte“ Kerze gesteckt werden – nur diese wird angezündet und bei Bedarf ausgetauscht. Das liegt daran, dass sich massive Wachskerzen im Lauf der Zeit oft stark verformen, wie Frater Leonhard erklärt. Tatsächlich befinden sich in der Kerzenkammer auch einige echte große Kerzen, von denen manche schon nach wenigen Jahren so gekrümmt sind, dass sie aussehen, als wollten sie sich verbeugen.

Wallfahrtstradition in Kloster Andechs

Dass sich in Andechs ein so reicher Schatz an gestifteten Kerzen befindet, liegt an der langen Wallfahrtstradition des Klosters. Bereits vor über 800 Jahren verpflichteten die Andechser Grafen zahlreiche Pfarreien der Region zur Wallfahrt. Oft lief es so ab, dass Gemeinden eine große Kerze – meist mit dem Patron der eigenen Kirche oder auch mit einem Andechser Motiv verziert – stifteten, die dann in der Kerzenkammer aufbewahrt wurde. Bei jedem jährlich wiederkehrenden Besuch der Gemeinde wurde die Kerze herausgeholt, während des Wallfahrtsgottesdienstes in der Kirche aufgestellt und mithilfe einer kleinen aufgesteckten Kerze angezündet.

Die Ortsnamen auf den Etiketten, aber auch die Motive und Schriftzüge der Wachsverzierungen sowie angebrachte kleine Votivtafeln verraten, dass das traditionelle Einzugsgebiet der Andechser Wallfahrt überwiegend im östlichen Teil des Bistums Augsburg und im westlichen Teil des Erzbistums München und Freising liegt. Einige wenige Gemeinden, die auch heute noch nach Andechs pilgern, blicken tatsächlich auf eine aus dem Mittelalter datierende Wallfahrtstradition zurück. Aber aus dieser Zeit ist keine Kerze mehr erhalten, denn im Jahr 1669 ereignete sich ein Großbrand, der den Großteil der Bestände vernichtete. Seitdem ist die „Vöhlinsche Kerze“ aus dem Jahr 1594 die älteste von allen.

Fußball-Fanclubs stiften heute Kerzen

Neue Wallfahrten entstanden im Laufe der Zeit, immer wieder wurden auch alte Kerzenständer erneuert oder komplett ersetzt. Und die Tradition lebt: Auch heute noch werden laufend Kerzen gestiftet – von Pfarrgemeinden, Vereinen, Einzelpersonen und sogar von Fußball-Fanclubs.

Öffentlich zugänglich ist die Andechser Kerzenkammer nicht. Aber wer mag, kann aus der hinteren linken Ecke des Kirchenraums sowie durch Fenster der Rückwand zumindest einen Blick auf den wächsernen Wallfahrtsschatz erhaschen. Die drei größten und vermutlich auch wertvollsten Kerzen stehen ohnehin nicht in der Kammer, sondern vorne am Altar: Eine wurde von der Industriellenfamilie von Miller gestiftet, eine von Papst Pius X. persönlich und eine – rund zweieinhalb Meter lang und über 40 Kilogramm schwer – von Bürgern aus Augsburg. Sie feiert in vier Jahren ihr 300-jähriges Jubiläum.

Der Redakteur
Joachim Burghardt
Münchner Kirchenzeitung
j.burghardt@michaelsbund.de