Das romanische Gotteshaus ist der letzte Überrest eines kleinen Dorfs, in dem weit über tausend Jahre lang Menschen gelebt, gearbeitet und gebetet haben – bis die moderne Welt nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Bau der Autobahn und der Mülldeponie unbarmherzig über die Fröttmaninger Gutshöfe hereinbrach und das Ende des Orts besiegelte. Wer die Kirche heute besuchen will, muss sie erst einmal finden – kann aber im Gegensatz zu den anderen Wüstungskirchen rund um München mit dem Auto hinfahren.
Zahlreiche weitere Wüstungen mit oder ohne Kirche
Natürlich wurden auch einige kleine Siedlungen aufgegeben, in denen es keine Kirche oder Kapelle gab, so zum Beispiel die Einödhöfe Dürnberg bei Straßlach, Brunnhaus bei Grünwald und Harring bei Weyarn. Diese lösten sich buchstäblich in Nichts auf und leben nur als Namen in historischen Karten fort. Aber auch wenn ein Gotteshaus vorhanden war, genoss dieses nicht automatisch Schutz vor dem Abriss: Im Kreuzlinger Forst südlich von Germering wurde die uralte Waldschwaige Kreuzing mitsamt ihrer Nikolaus-Kapelle abgebrochen – auch sie, wie so viele andere, im späten 19. Jahrhundert.
Deutlich später schlug der Streusiedlung Franzheim im Erdinger Moos die Stunde: Erst Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet und seit 1957 Standort einer dem heiligen Rasso geweihten Filialkirche, war schon Ende der 1970er Jahre wieder Schluss: Um Platz für den neuen Münchner Flughafen zu schaffen, musste Franzheim weichen. St. Rasso wurde nach einem letzten Gottesdienst 1977 profaniert und danach abgerissen, über 200 Einwohner suchten eine neue Heimat. Franzheim dürfte damit in der Münchner Umgebung vermutlich die Wüstung mit der geringsten vormaligen Lebensdauer und zugleich die mit den meisten Einwohnern sein.
Das Dorf, das im Isar-Wasser versank
Und dann wäre da noch das Dorf Fall im Isarwinkel, ein wahrlich spezieller Fall unter den Wüstungen: Da der Weiler dem geplanten Sylvenstein-Stausee im Weg stand, der zur Stromgewinnung und zur Hochwasserregulierung errichtet werden sollte, beschloss man, ihn abzureißen. Nur einen Kilometer weiter südlich baute man 1956 einen höher gelegenen Ersatzort, Neu-Fall, und siedelte die Bewohner dorthin um. Eine Zeit lang existierten noch beide Dörfer parallel, doch dann stand unweigerlich die Flutung des Stausees bevor, und Alt-Fall sah mitsamt der Marienkapelle seinem Ende entgegen.
Im August 1958 las der Pfarrer die letzte Messe und schrieb hinterher: „Wir sangen am Schluss – zum Teil unter Tränen – ein Dank-Te-Deum für allen Gnadensegen, der in mehr als zwei Jahrhunderten von diesem zum Abbruch bestimmten Gotteshaus ausgeströmt ist.“ Doch schon eine Woche später wurde die neue, mit Gemälden und Figuren aus der alten Kapelle ausgestattete Kirche Maria Königin im neuen – heutigen – Dorf Fall eingeweiht. Die Ruinen von Alt-Fall aber gingen 1959 im Isar-Wasser unter – und anders als im Südtiroler Dorf Graun, das wenige Jahre zuvor im aufgestauten Reschensee versunken war und wo noch heute der berühmte Kirchturm aus dem Wasser ragt, verschwand die Kapelle von Alt-Fall vollständig.
Kirchen als Mahnmale der Vergänglichkeit
Die Geschichte der Wüstungen und ihrer Kirchen ist also eine Geschichte von Umbrüchen und Zeitenwenden. Sie erzählt von plündernden Heeren, Epidemien, Hungersnöten, und später von gewaltigen Bauprojekten – Bahnlinien, Autobahnen, Flughäfen, Stauseen –, nach denen nichts mehr war wie zuvor. Umso verblüffender ist es, dass nicht wenige Gotteshäuser diesen schicksalhaften Ereignissen standgehalten haben. An heute verlassenen Orten halten sie beinahe unbemerkt weiterhin die Stellung, die Kirchentür an den meisten Tagen des Jahres fest verriegelt. Als versteckte Mahnmale der Vergänglichkeit bestehen sie fort – wehrhafte Zeitzeugen im Zeichen des Kreuzes. (Joachim Burghardt, Redakteur bei der Münchner Kirchenzeitung)