Meinung
Zum Tod des emiritierten Papstes

Joseph Ratzinger – ein Glücksfall für die Theologie

Ob Benedikt XVI. als Papst ein Glücksfall war und welche Rolle er im Missbrauchsskandal spielte, wird die Kirchengeschichte entscheiden. Aber durch ihn wurde Theologie aus Deutschland zum Weltexportschlager.

Joseph Ratzinger bei der Ankunft im Olympiastadion in Berlin im Rahmen seines Staatsbesuchs als Papst 2011 in Deutschland. © IMAGO / APress

„Oh wie schön, endlich Studenten.“ Das hatten wir nicht erwartet, dass der Präfekt der katholischen Glaubenskongregation die Honoratioren stehen lassen und auf unsere kleine Gruppe zukommen würde. Freundlich und herzlich, obwohl sich Joseph Ratzinger mit uns beileibe nicht hätte abgeben müssen. Das war 1987, als die Katholische Universität Eichstätt ihm ihre Ehrendoktorwürde verlieh. Er verblüffte uns. Dabei muss dem damaligen Kardinal Ratzinger schon an den Birkenstockschuhen, den selbstgestrickten Pullovern und den lila Schals einiger Kommilitoninnen klar gewesen sein, dass die meisten Herzen in dieser Gruppe eher für die Befreiungstheologie schlugen als für seine Schriften mit Titeln wie „Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie“. Wir hätten es besser wissen müssen.

Durch Ratzinger wurde Theologie aus Deutschland zum Weltexportschlager

In seinen Büchern und als Lehrer war Benedikt XVI. einer, der die Debatte, auch den Streit gesucht hat und dabei das Gegenüber oder den Gegner ernst nahm. Wir hatten der öffentlichen und oft genug auch kirchlichen Meinung vertraut, die in ihm nur den kalten und engstirnigen kirchlichen Behördenleiter sah. Nach dem, wenngleich kurzen, theologischen Small Talk änderte sich das zumindest teilweise und wir haben ihn stärker zu lesen angefangen. Ratzingers Denken ist von einer Offenheit, wie es sie in der deutschen Dogmatik zuvor nicht gegeben hatte. Er war ein Glücksfall! Er gehörte zu denen, die dafür gesorgt haben, dass Theologie aus Deutschland ein Weltexportschlager wurde, die katholische Kirche in den Geisteswissenschaften und unter Intellektuellen wieder als satisfaktionsfähig galt. Dafür hat er sich als junger Mann auch mit den Altvorderen angelegt und neue Wege eingeschlagen. Etwa wenn er in seinem Bestseller „Einführung in das Christentum“ die Jungfrauengeburt mit einem philosophischen Argument erklärt.

Einzelentscheidungen Ratzingers nicht immer nachzuvollziehen

Wenn es heute in der katholischen Kirche eine befreite Diskussionskultur gibt - Joseph Ratzinger hat daran mitgewirkt, auch wenn das manche nicht wahrhaben wollen. Es scheint nicht zu dem Mann zu passen, der als Präfekt der Glaubenskongregation Verbote aussprach, die nach Basta-Mentalität rochen. Doch wenn ihm etwas gegen den theologischen Strich ging, dann deshalb, weil es unbedarft das historisch Gewachsene übersieht, in dem und durch das sich Dogmatik und Kirche wandeln und erneuern. Und er hatte etwas gegen Ideologien, die davon ausgehen, dass sich der Mensch selbst erlösen kann. Viele Enttäuschungen in der Befreiungstheologie haben ihm recht gegeben, siehe Nicaragua oder Haiti.

In praktischen Einzelentscheidungen war Joseph Ratzingers streng akademische Herangehensweise nicht immer nachzuvollziehen. 1999 erzwang er als Präfekt der Glaubenskongregation den Ausstieg der deutschen Bistümer aus dem staatlichen Schwangerenberatungssystem. Mit guten Gründen konnten ihm insbesondere viele Laien nicht folgen. Sie nahmen lieber eine „Verdunkelung“ der reinen Lehre hin, als betroffene Frauen in Konfliktsituationen nicht mehr zu erreichen.

Goldstandard gesetzt: Ein Papst darf zurücktreten

Ob Benedikt XVI. als Papst ein Glücksfall war und welche Rolle er im Missbrauchsskandal spielte, wird die Kirchengeschichte entscheiden. Aber auch als katholisches Oberhaupt hat er einen zuvor undenkbaren neuen Goldstandard gesetzt: Ein Papst darf zurücktreten, wenn er sich der Last des Amtes nicht mehr gewachsen fühlt, um gerade so dieses Amt zu schützen. Mit seinem historischen Verzicht hat er auch für seine Nachfolger Entscheidendes geleistet. Er hat der übermenschlich scheinenden Aufgabe damit ein menschliches Antlitz zurückgegeben. Wer Schwäche und Erschöpfung einräumen und Macht zurückgeben kann, der zeigt eine seltene Größe. Joseph Ratzinger konnte das und nicht nur kleine Studentengruppen verblüffen, sondern die ganze Welt. 

Der Autor
Alois Bierl
Chefreporter Sankt Michaelsbund
a.bierl@michaelsbund.de