Heilung in der Bibel

Jesus als Heiler und Therapeut

Blind, taub, gelähmt - Die Bibel bietet viele Beispiele wie sich Christus den Kranken und Leidenden zuwendet. Doch Heilung funktioniert bei Jesus immer anders als erwartet.

Jesus heilt, allerdings anders als von den Menschen erwartet. © lemélangedesgenres - stock.adobe.com

Wer das Neue Testament aufschlägt, begegnet dort einer Fülle von kranken, besessenen, gelähmten, ausgestoßenen, aussätzigen, blinden, stummen und tauben Menschen. Auch wenn diese Krankengeschichten keine Diagnosen und Therapien in unserem heutigen Sinn darstellen, so verstehen wir doch: Leidende Menschen suchen und finden Hilfe bei Jesus, der allerdings nicht alle Heilungserwartungen erfüllt.

So erwartet der Gelähmte am Teich Betesda, dass entweder ein Engel das heilende Wasser in Wallung bringt oder dass jemand ihn zum Wasser trägt. Jesus fragt diesen Mann, der schon 38 Jahre krank ist: „Willst du gesund werden?“ Der Kranke antwortet ihm: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich, sobald das Wasser aufwallt, in den Teich trägt. Während ich mich hinschleppe, steigt schon ein anderer vor mir hinein“ (Joh 5,2–8). Jesus heilt nicht dadurch, dass er das Wasser aufrührt oder den Gelähmten zum Teich trägt. All diese Erwartungen enttäuscht er und sagt lapidar zu dem Gelähmten: „Steh auf, trag deine Matte und geh umher!“

Heilung durch Beziehungs-Angebot

In vielen Heilungsgeschichten beginnt Jesus einen Dialog mit der Frage: „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Zur Heilung selbst gehört dann eine Verwandlung. Zum Beispiel will die Frau mit gynäkologischen Blutungen bei Markus unbemerkt bleiben, als sie die Kleidung Jesu von hinten berührt. Sie stellt sich eine Heilung durch Kontakt und durch magische Energieübertragung vor. Jesus aber sucht den direkten Kontakt, möchte mit ihr auf Augenhöhe ins Gespräch kommen und so die kranke Frau zu einer aktiven Partnerin im Heilungsgeschehen machen. So ist es auch bei dem Gelähmten am Teich: Jesus heilt nicht durch einfache Erfüllung von Erwartungen, sondern durch Überraschung, Provokation und Beziehungs-Angebot.

Gerade wenn das „Problem“ der hilfesuchenden Menschen und ihrer Begleitung offensichtlich ist, heilt Jesus in überraschender Weise: vier Männer lassen einen Gelähmten vom Dach aus zu Jesus hinab. Eigentlich ist klar, welcher Job von ihm erwartet wird. Er aber sagt: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!“ (Mk 2,5) und ruft mit dieser überraschenden Intervention Unverständnis und Unmut hervor. Auch diesen Gelähmten fordert Jesus in der Folge auf, sich hinzustellen und die nutzlos gewordene Trage, auf der er heruntergelassen worden war, mitzunehmen. Man kann also sagen: Die Erwartungen an Jesus den Heiler werden enttäuscht, oder auch: Sie werden übererfüllt.

Heiland = der Heilende

Jesus heilt nicht in erster Linie als wirksamer Wunderheiler, auch wenn er ganz offensichtlich Menschen in ihrer Not und in ihrer Hoffnung anzieht. Aber letztlich scheitert der Ruf von Jesus, dem Wunderheiler, am Kreuz. Dort haben die Umstehenden nur Spott und Hohn für ihn übrig: „Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen.“ (Mk 15,31) Die frühe Christenheit sah in Jesus schon bald den göttlichen Arzt, er nahm in der Frömmigkeit gewissermaßen den Platz des griechischen Heilgottes Asklepios ein. Wo aber liegt das Besondere an Jesus, dem Heiler?

Im Deutschen nennen wir Jesus „Heiland“ und übersetzen damit die griechischen Begriffe für „Erlöser, Retter, Christus“. „Heiland“ heißt ursprünglich „der Heilende“ (Partizip Präsens von „heilen“). Was bedeuten die Wörter „heilen“ und „heil“? Das alte deutsche Wort „Heil“ bedeutet Glück, Wohlergehen, Rettung, Erlösung, verwandt mit dem Adjektiv „heil“ (unbeschädigt, unverletzt, gesund, ganz, vollkommen), verwandt mit dem englischen „whole“. Sowohl im religiösen Sprachgebrauch als auch im medizinischen steht „Heilung“ für den Idealfall einer vollständigen Wiederherstellung der Gesundheit nicht nur im körperlichen Sinn, sondern auch im psychischen, sozialen und spirituellen.

Begrenztheit unseres Lebens 

Im Englischen gibt es zwei Wörter für „heilen“, nämlich das mit unserem Wort verwandte „to heal“ und das aus dem Lateinischen abgeleitete „to cure“. Der Unterschied zwischen beiden englischen Wörtern ist von großer Bedeutung für kranke Menschen und für die heilenden Berufe: „Kurativ“ nennen wir in der Medizin einen Therapieansatz, der eine Krankheit an der Wurzel packt und dadurch vollständig beseitigt: die Erfolgsstory, auf die unsere Medizin mit Recht stolz ist. Ganz anders in der Palliativmedizin: Hier steht nicht to cure im Vordergrund, sondern to heal. Solange wir leben, sehen wir uns nach Heilung, auch wenn wir „unheilbar krank“ sind.

Der Unterschied zwischen to heal und to cure beschränkt sich keineswegs auf das Lebensende. Verständlicherweise halten viele Betroffene Heilung im Sinne von to heal für weniger wertvoll und weniger erstrebenswert als to cure. Denn mit to heal ist das Akzeptieren der Begrenztheit unserer Gesundheit und unseres Lebens verbunden. Deshalb rät Ignatius von Loyola, die Gesundheit nicht zum höchsten Ziel unseres Lebens zu machen, sondern uns gelassen und „indifferent“ zu stimmen: „Wir sollen also nicht unsererseits mehr wollen: Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Ehrlosigkeit, langes Leben als kurzes; und genauso folglich in allem sonst, indem wir allein wünschen und wählen, was uns mehr zu dem Ziel hinführt, zu dem wir geschaffen sind“.
(Eckhard Frick SJ, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychiatrie, Psychoanalytiker und Professor für Anthropologische Psychologie an der ordenseigenen Hochschule für Philosophie in München)