Moderne Bibel-Auslegung

Jeremia – Prophet wider Willen

"Wie lese ich die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts?" – Dieser Frage geht unsere Bibel-Leseschule nach. Heute geht es um Jeremia, einen Propheten, der mit seiner Aufgabe nicht immer zufrieden ist.

Jeremia – hier auf einer russischen Ikone von 1589 – schildert, welche Last das Prophetenamt für ihn darstellt. © KNA

München – „Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde“ (Jer 20,14).  „Warum denn kam ich hervor aus dem Mutterschoß? Nur, um Mühsal und Kummer zu erleben und meine Tage in Schande zu beenden?“ (Jer 20,18) Das sind keine Sätze, die man von einem Propheten, einem von Gott bevollmächtigten Boten, erwartet. Und gleichzeitig denkt man als moderner Mensch in der aktuell herausfordernden Zeit: Jeremia, ich fühle, wie es dir geht. Ein intimer Einblick in das Gefühlsleben eines Propheten, das macht das Buch Jeremia zu etwas ganz Besonderem.

Schon die Erzählung seiner Berufung durchbricht die Leseerwartung. Am Beginn stehen große Worte, bereits vor seiner Geburt hat Gott Jeremia als Propheten erwählt. Und was antwortet er? „Ach, Herr und GOTT, ich kann doch nicht reden, ich bin ja noch so jung.“ (Jer 1,6) Mit seinem Zögern ist der Prophet nicht allein, der „Einwand des Berufnen“ gehört zu einem festen Schema, wie in der Bibel Berufungen erzählt werden. Zum Beispiel reagiert auch Mose auf den Auftrag Gottes zweifelnd: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?“ (Ex 3,11).

Gott ist an seiner Seite 

Die Feststellung, aus eigener Kraft nicht bereit für das Amt zu sein, dient als Sprungbrett für die entscheidende Botschaft. „Denn ich bin mit dir“ (Jer 1,8), antwortet Gott auf Jeremias Selbstzweifel. Was den Propheten für seine schwierige Aufgabe befähigt, ist vor allem anderen, dass er weiß, dass Gott an seiner Seite ist.

Berufung ist immer noch eine zentrale Kategorie in der Kirche. Man spricht von Priester- und Ordens-Berufungen, aber auch von der Berufung jedes Christen zur Heiligkeit. Auch ein Beruf ist oft eine gelebte Berufung. Die Jeremia-Geschichte macht deutlich, wie Berufung auf eine gute Weise verstanden werden kann. Sie bedeutet nicht, dass jemand perfekt in etwas ist und so unersetzlich und unantastbar wird. Ein solches Verständnis begünstigt die Überhöhung der eigenen Person und führt zu Machtmissbrauch. Im Gegenteil weiß die/der Berufene um die eigenen Schwächen, traut sich die Aufgabe aber zu, weil Gott sie mitträgt. 

Das Buch Jeremia


Jeremia ist das umfangreichste Buch der Bibel und übertrifft damit sogar die Psalmen. Laut der biblischen Geschichtsschreibung tritt der Prophet zwischen 627 und 587 vor Christus auf, die sich ergebenden 40 Jahre sind wahrscheinlich symbolisch als vollkommene Zeitspanne zu verstehen. Diese Zeit ist von politischen Auseinandersetzungen geprägt und endet mit dem Beginn des Babylonischen Exils. Jeremia stammt aus einer priesterlichen Familie aus Anatot nördlich von Jerusalem. Das Buch gilt als unübersichtlich, da es aus unterschiedlichen Textgattungen besteht und immer wieder von verschiedenen Autoren fortgeschrieben wurde. Besondere Bedeutung bekommt es dadurch, dass darin ein Prophet die Last schildert, die sein Amt für ihn darstellt.

Bis heute bleibt das Buch Jeremia so spannend, weil es das Seelenleben eines Propheten offenlegt. Das geschieht vor allem in den sogenannten Konfessionen Jeremias in den Kapiteln 11 bis 20. Diese „Bekenntnisse“ sind Klagegedichte, in denen Jeremia kein Blatt vor den Mund nimmt. Er leidet darunter, dass die Prophezeiungen, die er verkündet, nicht eintreten. Andere Menschen machen sich über ihn lustig, er wird bedroht, verhaftet, bekommt eine Prügelstrafe und wird in einer Zisterne gefangen gehalten.

In seinen Gedichten macht er seinem Frust Luft und richtet ihn nicht nur an die, die ihm all das antun, sondern auch an Gott selbst. „Warum dauert mein Leiden ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? Wahrlich, wie ein versiegender Bach bist du mir geworden“ (Jer 15,18). „Du bleibst im Recht, HERR, auch wenn ich mit dir streite; dennoch muss ich mit dir rechten. Warum haben die Frevler Erfolg, weshalb können alle Abtrünnigen sorglos sein?“ (Jer 12,1).

Warum lässt Gott Leid zu? 

Jeremia beschreibt ein Gefühl, das gläubige Menschen nur zu gut kennen: Warum lässt Gott mein Leid zu? Warum geht es anderen, die sich schlecht verhalten, gut, und mir, der ich mich um ein gutes Leben bemühe, schlecht? Dass ein mächtiger Prophet so spricht, ist ungewohnt. Mit seiner Ehrlichkeit steht er dafür ein, wie eine Gottesbeziehung allein funktionieren kann: indem ich nicht bestimmte Bereiche meines Lebens ausklammere, sondern wirklich alles vor Gott bringe, auch meinen Zorn auf ihn selbst.

Nur so kann die Beziehung sich weiterentwickeln und ein Prozess beginnen, mit den Schwierigkeiten des Lebens umzugehen. Nur so kann ich auch offen dafür werden, das „Denn-ich-bin-mit-dir“ Gottes zu spüren, das er als Antwort auf die Widrigkeiten und Herausforderungen am Beginn einer jeden Lebensgeschichte immer schon gegeben hat. (Theresia Kamp, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt)