Religiöser Fanatismus

Gegen Freiheit und Pluralismus

Religiöser Fundamentalismus zählt zu den größten Herausforderungen der modernen Welt – doch der Begriff ist mit Vorsicht zu verwenden.

Jede der bekannten Religionen kann in Zeiten von existentiellen gesellschaftlichen Krisen, Orientierungsverlusten und beängstigenden Unisicherheiten fundamentalistisch instrumentalisiert werden. © Adobe Stock/olly, vectorplus/Illustration: SMB/Griesbeck

München – Religiösen „Fanatismus“ im Sinne der rücksichts- und kompromisslosen Durchsetzung eigener Interessen gegen Widerstrebende unter Berufung auf religiöse Gewissheiten, wenn nötig mit Gewalt, hat es in der menschlichen Geschichte zu allen Zeiten gegeben. Ebenso gab es immer auch extreme Formen von Frömmigkeit, die Bereitschaft zur Selbstopferung eingeschlossen. Das gilt, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maß, für alle Religionen.

Das Prinzip der religiösen Toleranz hat sich als allgemein anerkanntes Prinzip des sozialen Gemeinschaftslebens und der politischen Gleichheit erst in neuerer Zeit in den Ländern eingebürgert, die dem normativen Leitbild der modernen Kultur folgen. Dem waren in Europa fast zwei Jahrhunderte religiöser Bürgerkriege vorausgegangen, die blutig demonstriert hatten, dass der Weg religiöser beziehungsweise konfessioneller Alleinherrschaft über ganze Länder an sein Ende gekommen war. Dauerhafter Religionsfriede durch rechtlich garantierte Selbstbestimmung in Glaubensfragen im Rahmen gesicherter Rechtstaatlichkeit ist seit dem neunzehnten Jahrhundert die historische Antwort, welche die politische Kultur der Moderne auf die Herausforderung durch den religiösen Pluralismus gefunden hat.

Nachhaltiger Schub

Dazu hatte in Europa schon seit dem 18. Jahrhundert die Aufklärung wesentlich beigetragen. Sie veranlasste aber nicht nur viele zur Abwendung von Religion überhaupt, sondern löste auch innerhalb des Christentums selbst einen nachhaltigen Schub der Selbstreflexion aus, der schließlich zur Überwindung der ehemaligen Monopolansprüche aus eigener Überzeugung führte. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die Geltung individuellen Freiheitsrechte in der Neuzeit, vor allem des Rechts der religiösen Selbstbestimmung. Zuvor hatten in fast allen Kulturen, die wir kennen, die jeweils vor Ort herrschenden religiösen Glaubenssysteme mit dem Anspruch der alleingültigen Wahrheit für alle die Doppelrolle als individuelle Heilswege und als kollektive Rechtfertigung der sozialen Verhältnisse und der politischen Herrschaft gespielt und diesen Anspruch notfalls mit allen verfügbaren Mitteln durchgesetzt. Das galt in fast allen Zivilisationen als kulturelle Selbstverständlichkeit.

Purismus und Kompromissfeindschaft

„Fundamentalismus“ ist demgegenüber ein moderner Begriff, der in seiner sinnvollen, wissenschaftlich fundierten Verwendung auf solche Glaubens- und Handlungsformen in der modernen Welt bezogen ist, die den kulturellen Normen der individuellen Freiheit im Namen vermeintlicher religiöser oder weltanschaulicher „Wahrheit“ den Kampf ansagen. „Fundamentalistisch“ wird eine individuelle oder gemeinschaftliche Glaubenswahrheit erst dann, wenn sie ihren eigenen Gewissheitsanspruch für alle verbindlich machen will – gegen geistige Offenheit, individuelle Freiheit, Toleranz und religiöse Selbstbestimmung in Staat und Gesellschaft.

Das gilt für profane weltanschauliche Glaubensgewissheiten, wie im 20. Jahrhundert den Marxismus-Leninismus (nicht den ursprünglichen Marxismus) ebenso wie für jede Religion. Als ideologisches Gegenprinzip zu individueller Freiheit und geistigpolitischem Pluralismus kann der Fundamentalismus unter entgegenkommenden sozialen und politischen Bedingungen in allen modernisierten Gesellschaften auftreten, was tatsächlich ja auch weithin zu beobachten ist – in den USA sehr ausgeprägt, in Europa in wechselndem Maße aber auch. Er kann lange Zeit ein fast unsichtbares Randphänomen in Kleingruppen bleiben, aber dann in Situationen starker sozialer und politischer Krisen mit existenzieller Verunsicherung rasch zu einer mächtigen Kraft mit großer gesellschaftlicher Unterstützung anwachsen und sogar erfolgreich nach der politischen Macht im Staat greifen.

Ausschnitt aus der Papst-Enzyklika „Fratelli tutti“


„Wir sehen, wie jede Art fundamentalistischer Intoleranz den Beziehungen zwischen den Personen, Gruppen und Völkern schadet. Deshalb müssen wir den Wert von Respekt, von Liebe, die alle Verschiedenheiten umfasst, den Vorrang der Würde jedes Menschen vor seinen Ideen, Gefühlen, Handlungs- weisen und sogar Sünden vorleben und lehren. Während in der heutigen Gesellschaft Formen von Fanatismus, von hermetisch abgeschotteten Denkweisen und die gesellschaftliche und kulturelle Fragmentierung wachsen, macht ein guter Politiker den ersten Schritt, damit verschiedene Stimmen gehört werden. Es ist zwar wahr, dass die Unterschiede Konflikte hervorbringen, die Einförmigkeit jedoch erstickt und bewirkt, dass wir uns kulturell selbst vernichten. Finden wir uns nicht damit ab, abgeschlossen nur in einem Bruchstück der Realität zu leben.“ (Papst Franziskus, Fratelli tutti 191)

Er wirkt dann wegen seines Purismus und seiner Kompromissfeindschaft wie ein Versprechen der ethischen „Reinheit“ gegen „moralischen Verfall“, „Korruption“ und die Ausweglosigkeit der Herrschaft selbstsüchtiger oder die Anmaßung ausländischer Eliten. Er verschafft gefühlte Sicherheit in Situationen unerträglicher sozialer, kultureller oder politischer Verunsicherung. Und er verleiht zumindest in den Augen der eigenen religiösen oder weltanschlichen Identitätsgruppe vermisste persönliche Anerkennung und Überlegenheitsglauben.

„Fundamentalismus“ in diesem Sinn hat sich inzwischen als eine der großen Herausforderungen der modernen Welt erwiesen, ist aber der europäischen Öffentlichkeit erst seit den 1990er Jahren als solcher bewusst geworden. Zugleich ist er aber seither auch zu einem der am häufigsten missbrauchten Begriffe in den religiösen und politischen Kontroversen der Gegenwart geworden. Im Kern definiert er religiöse oder weltanschauliche Denksysteme oder Haltungen, sofern sie als politische Ideologien verwendet werden, um Gewissheitsansprüche bestimmter Gruppen als Instrument zu Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen auch gegen Widerstrebende zu benutzen. Es geht bei ihm um Ideologien und rücksichtslose Kollektive, die im Namen ihrer selbsterkorenen Gewissheiten alle davon Abweichenden oder Zweifelnden ausschließen, unterwerfen, und in extremen Fällen sogar beseitigen wollen.

Keine Religion ist auf Fundamentalismus angelegt

Fundamentalismus ist also eine extreme Art von „Identitätspolitik“. Für die von ihm praktizierte Instrumentalisierung eines an sich legitimen religiösen oder profanen Glaubens als politische Ideologie, also als Waffe im gesellschaftlichen oder politischen Machtkampf, hat in der jüngeren Geschichte jedes der bekannten Glaubenssysteme herhalten müssen – nicht nur der Islam, das Christentum und der Hinduismus, sondern sogar der wesensmäßig friedfertige Buddhismus im langjährigen Bürgerkrieg Sri Lankas.

Der charakteristische Griff des Fundamentalismus nach Vormundschaft und Herrschaft muss nicht in jedem Fall die ganze Macht betreffen, er kann auch selektiv sein oder als Vorbehalt wirksam werden, wie etwa bei bestimmten Gruppen von Evangelikalen in den USA, die sich berechtigt wähnen, in das schulische Curriculum einzugreifen oder Gesetze zu missachten, wenn sie ihren Dogmen zuwiderlaufen.

Der wichtigste Befund der mittlerweile sehr ausgedehnten international vergleichenden Fundamentalismus-Forschung lautet: Jede der bekannten Religionen kann in Zeiten von existentiellen gesellschaftlichen Krisen, Orientierungsverlusten und beängstigenden Unisicherheiten fundamentalistisch instrumentalisiert werden. Aber alle Religionen haben in der Zwischenzeit auch unter Beweis gestellt, dass keine von ihnen von Haus aus, also wesensmäßig, auf den Fundamentalismus angelegt ist. Auch im Islam existieren vielerorts neben den auffälligen, aber weltweit nicht mehrheitlichen fundamentalistischen Milieus auch traditionalistische und ebenso beachtliche liberale Milieus.

Trennscharfe Begriffserklärung

Erwähnt werden muss auch der gezielte Missbrauch des Begriffs „Fundamentalismus“ zur vernichtenden Etikettierung missliebiger Ideen, Personen oder Gruppen, die in den Augen der jeweiligen Betrachter „zu weit“ gehen, zu radikal oder zu konsequent erscheinen. Der Begriff ist also durchaus mit Vorsicht zu verwenden. Er klärt oder rüttelt auf, wo er am Platze ist, aber vernebelt, verwirrt und entwertet sich selbst, wo er als bloße Waffe der Diffamierung eingesetzt wird. Er sollte daher nicht, um solchen Missbrauch zu vermeiden, einfach zu den Akten gelegt werden, wie manche Kritiker empfehlen. Was allein hilft, ebenso wie bei anderen oft missbrauchten Grundbegriffen der politischen Sprache, etwa „Demokratie“, „Gemeinwohl“ oder „Gerechtigkeit“, ist nicht der Verzicht auf sie, sondern ihre möglichst trennscharfe Klärung.

Der Begriff „Fundamentalismus“ in seiner präzisen Bedeutung passt nicht für solche Varianten des Glaubens und Handelns, sei es Einzelner oder privater Gruppen, die gesteigerte oder „über“-konsequente Formen von Frömmigkeit praktizieren, solange sie nicht auf eine bevormundende Vormachtstellung im öffentlichen Raum oder die sozial-kulturelle Unterdrückung Anderer zielen. Da kann eher der Begriff des „Fanatismus“ im Sinne von Verbohrtheit oder blindem Eifer treffen. Der Begriff des „Extremismus“ wiederum ist in der Bundesrepublik sowohl in der Politikwissenschaft wie im öffentlichen Recht solchen politischen Bestrebungen vorbehalten, die mit Geist und Tat auf die Abschaffung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung gerichtet sind. Das trifft, wie gezeigt, für alle Spielarten des religiös basierten, aber auch des auf profanen Weltanschauungen fußenden Fundamentalismus zu.

Innerhalb des religiösen Bereichs sollte es ausreichen im gegebenen Fall „Fanatismus“, „extreme Frömmigkeit“, und „Eiferertum“ bei ihren eigentlichen Namen zu nennen, solange sie sich nicht zur Stigmatisierung von Zweifeln, zum geistigen Vormund über die Gemeinde oder gar ganze Gesellschaften aufschwingen wollen. (Professor Thomas Meyer; Der Autor ist emeritierter Professor am Institut für Philosophie und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund.)