Meinung
Nach dem Brexit

Europa – ein katholisches Anliegen

Gläubige Christen haben das friedliche Zusammenwachsen des Kontinents entscheidend vorangetrieben. Sie sind jetzt wieder gefordert.

Alois Bierl ist Leiter der Radioredaktion des Sankt Michaelsbundes (Bild: Sankt Michaelsbund) © Sankt Michaelsbund

Selten habe ich mich nach einer politischen Entscheidung so traurig gefühlt wie heute morgen, Großbritannien scheidet aus der Europäischen Gemeinschaft aus. Eines fällt mir beim Nachdenken auf: Der Gedanke der politischen Einheit dieses Kontinents ist zuerst in einem nationalkirchlich geprägten Land offiziell zurückgewiesen worden. Sind bei dieser Entscheidung konfessionelle Unterströmungen im Spiel? Natürlich spielen sie nicht die einzige und nicht einmal eine augenscheinliche Rolle, aber bemerkenswert sind sie doch. Im Kern war der europäische Einheitsgedanke zuerst eine Angelegenheit katholischer Politiker: Robert Schumann aus Frankreich, Konrad Adenauer aus Deutschland und Alcide De Gaspari aus Italien. Den Gedanken der kirchlichen Einheit haben sie als Ministranten mit dem Weihrauch eingeatmet und sie hatten ihn mit der gemeinsamen lateinischen Liturgiesprache im Ohr.

Und es lag nahe, ihn nach den verheerenden Kriegen, die Europa verwüstet haben, auch in der Politik anzuwenden. Nicht als totalitären und intoleranten Gottesstaat, sondern als Gemeinschaft mit vielen verschiedenen Gliedern, denen die zuvor mit Füßen getretene Menschenwürde des Einzelnen heilig ist. Sie gehört zur Kernüberlieferung des Christentums, so oft die Kirche selbst sie auch verraten hat. Das Zweite Vatikanische Konzil hat das auf die große Formel von der „Einheit in der Vielfalt“ gebracht, die auch eine Aussöhnung zwischen den Kirchen nach sich gezogen hat. Dieser mächtige religiöse und politische Impuls war so überzeugend, dass er konfessionelle und nationale Grenzen hinter sich gelassen hat und Europa eine historisch einzigartige Friedens- und Wohlstandsepoche geschenkt hat. Sie gründet nicht in Verträgen zwischen einzelnen Nationen, sondern in gemeinsamen Institutionen und Abmachungen, die viele Staaten einbinden.

Bitte nicht wieder „schlafwandeln“

Nach dem Austritt der Briten könnte sich schleichend wieder eine unselige Politik der Absprachen zwischen Einzelstaaten und des gegenseitigen Sich-Ausspielens Bahn brechen. Sie hat Europa besonders vor 1914 in den Abgrund getrieben, wie das der australische Historiker Christopher Clark in seinem großartigen Buch „Die Schlafwandler“ beschrieben hat. Das mühsame Aushandeln des gemeinsamen Zusammenlebens in der Europäischen Union, verbunden mit vielen schwierigen Kompromissen, könnte wieder vielen bilateralen Abkommen weichen, in denen zwei oder drei Staaten auf Kosten der anderen die größten Vorteile für sich herausschlagen. Die Idee des Katholischen, das wörtlich allumfassend bedeutet, wäre dahin. 1914 hat sie in die Urkatastrophe Europas geführt, unterstützt auch von den Kirchen in den einzelnen Ländern.

Päpste als Mahner

Allein Papst Benedikt XV. versuchte sich ihr mit seinen bescheidenen politischen und diplomatischen Mittel entgegen zustellen. Heute ist es wieder vor allem der Papst, der aus seinem religiösen Selbstverständnis heraus zur politischen Einheit und Besinnung auffordert, die auch moralische Standards setzt, z. B. im Umgang mit Flüchtlingen. Dass Franziskus den Europäischen Karlspreis erhalten und angenommen hat, ist ein Signal und eine Mahnung für alle Katholiken, die übernationale Einheit dieses Kontinents zu pflegen und zu bewahren. Vielleicht gelingt es so, Überzeugungsarbeit in allen gesellschaftlichen und nationalen Gruppierungen für den Zusammenhalt dieses Europas zu leisten, das es geschafft hat, in seiner Vielfalt friedlich zusammen zu stehen. Auch wenn es dabei nun leider ohne Großbritannien auskommen muss, das diesem Kontinent so viel gegeben hat. (Alois Bierl)

"Die EU ist eine konkret gewordene Lehre, aus den zwei entsetzlichen Weltkriegen geboren. Meines Erachtens, und ich sage das als Nichteuropäer, ist die EU eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit."
Der australische Historiker
Christopher Clark in einem Interview mit dem Münchner Kirchenradio.

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