Eine Holocaust-Überlebende berichtet

Erzählen wider das Vergessen

Als Kind musste Henriette Kretz vor den Nazis fliehen, sich in Kohlekellern verstecken und im Dunkeln ausharren. Heute erzählt sie als Zeitzeugin ihre Geschichte.

Henriette Kretz besucht als Zeitzeugin Schulklassen. © SMB

München – Heuer jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 75. Mal. Durch den Völkermord an sechs Millionen Juden und 500 000 Sinti und Roma, an Homosexuellen, Regimegegnern, Priestern und Behinderten wurde er zum dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte.

Heute gibt es nur noch wenige Menschen, die von diesen Gräueln berichten können. Henriette Kretz ist so jemand. Sie ist 85 Jahre alt und lebt in Antwerpen. Aber regelmäßig kommt diese kleine, kluge, muntere, schöne Frau nach Deutschland und erzählt Schulklassen von ihrer Kindheit. Ihre Heimat ist die Stadt Lemberg, die heute in der Ukraine liegt. Damals gehörte sie zu Polen, davor zu Österreich-Ungarn und nach dem Krieg zur UDSSR.

Versteckt hinter Schränken und in Kohlekellern

Ein Drittel der Bevölkerung dort war jüdisch, aber für die kleine Henriette und auch für ihre Spielkameraden spielte das überhaupt keine Rolle. Wichtig war, wer am besten Äpfel klauen konnte. Sie war das einzige Kind eines Arztes und einer Anwältin. Als die Lage sich nach Ausbruch des Krieges verschlimmerte, zog die Familie in eine kleinere Stadt um, in der der Vater noch als Arzt arbeiten konnte.

Dann mussten sie in ein jüdisches Viertel ziehen, das sie anfangs noch verlassen konnten, das aber bald zum Ghetto hinter Stacheldraht wurde. Vor den Massenerschießungen konnte die Familie ein paar Mal fliehen und sich bei Freunden hinter Schränken oder in Kohlekellern verstecken. „Wir mussten im Dunkeln sitzen. Die einzige Kerze, die wir hatten, haben wir nur angemacht, wenn der Besitzer des Hauses kam und Essen gebracht hat. Es war auch sehr eng dort unten und wir konnten uns kaum bewegen“, erzählt Henriette Kretz.

Und sie erinnert sich, wie ihre Eltern fast ununterbrochen mit ihr gesprochen und Geschichten erzählt haben. Einige Monate saßen sie da. Aber am Ende wurden die Eltern verraten und erschossen. Henriette konnte weglaufen, ist in ein katholisches Waisenhaus geflohen, wo sie das Kriegsende erlebt hat.

Von dem Buch von Henriette Kretz mit dem Titel: "Willst Du meine Mutter sein? Kindheit im Schatten der Schoah“ gibt es nur noch wenige gedruckte Exemplare. Es kann allerdings bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung kostenlos als e-book heruntergeladen werden.

Schulen, die Zeitzeugen einladen möchten, können sich an das Maximilian-Kolbe-Werk wenden.

Jüdische Gemeinde und jüdisches Leben

Neun Jahre war sie da alt und mutterseelenallein auf der Welt. Dann hat jemand ihren Onkel gefunden, aber es war gar nicht so einfach, die beiden zusammen zu bringen, dann der Onkel war in Polen und Henriette in Stalin-Russland. Da konnte man nicht einfach hin- und herreisen. Sie haben es aber doch mithilfe eines russischen jüdischen Offiziers geschafft und wollten eigentlich nach Kuba auswandern, weil sie sich als Juden in Europa nicht mehr sicher fühlten.

Das Schiff, das sie dorthin bringen sollte, wäre in Antwerpen abgefahren. Dort gab es schon wieder eine jüdische Gemeinde und jüdisches Leben. Und sie blieben dort. Als Henriette erwachsen war, ist sie nach Israel gegangen. „Mir war klar: wenn wir Juden irgendwo sicher sein wollten, dann brauchten wir einen eigenen Staat.“ Sie wollte dort sogar als Soldatin im Sinai-Krieg kämpfen, aber wurde nicht angenommen. „Der Mann im Rekrutierungsbüro hat mich gefragt, ob ich schon mal eine Waffe in der Hand gehabt hätte. Ich habe gesagt: Nein. Und er hat mich gefragt, womit ich kämpfen wolle? Mit einem Löffel?“, lacht sie. Stattdessen hat sie einen Soldaten geheiratet, zwei Kinder bekommen und ist zurück nach Antwerpen gezogen, als ihr Onkel und ihre Tante alt wurden.

Der Preis des Lebens

Wenn Sie heute Schülern von ihrer Kindheit erzählt, mag sie sich selbst nicht als Opfer sehen: „Man wollte uns vernichten. Aber das ist nicht gelungen. Sie haben unsere Familie ermordet, sie haben unsere Kindheit zerstört. Aber wir sind dadurch stark geworden. Wir sehen nicht jedes kleine Problem als Unglück und wir wissen, was wirklich wichtig ist, denn wir kennen den Preis des Lebens,“ sagt die kluge Frau, die einfach nicht verstehen kann, wie das Virus des Rassismus wieder um sich greifen kann: „Wie kann jemand über die gute alte Zeit reden, wenn er die Geschichte kennt und weiß, was 45 geschehen ist? Was ist denn übrig geblieben damals? Wie sah dieses Land denn aus? Wie kann man sich nach einem Regime sehnen, das zuerst seine eigenen Kinder vergast hat? Denn die behinderten Kinder waren deutsche Kinder.“

Mahnende Worte, an die jeder denken sollte, wenn in diesen Tagen die braune Suppe wieder gekocht wird und Faschisten wieder in deutschen Parlamenten sitzen.

Podcast-Tipp

Hauptsache Mensch

Das ganze Gespräch mit Henriette Kretz können Sie in unserem Podcast „Hauptsache Mensch“ hören.

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