Das Hohelied der Liebe

Erotische Dichtung in der Bibel

Bei Erotik denkt wohl kaum einer zuerst an die Bibel. Dabei gilt der Text aus dem Alten Testament als eines der schönsten Liebesgedichte der Welt.

„Früh wollen wir … gehen und sehen, … ob die Granatbäume blühen“, heißt es im Hohelied. © Igor Batenev - stock.adobe.com

Mögen Sie Liebesgedichte? Wahrscheinlich schon, denn die meisten Lieder und Popsongs, die wir hören, besingen ja auf irgendeine Weise die Liebe. Eines der schönsten dieser Liebeslieder aber steht in der Bibel: Das „Hohelied der Liebe“ oder auch das „Schir Haschirim – Lied der Lieder“, wie es in der jüdischen Tradition heißt. Diese lose Sammlung altorientalischer Liebeslyrik hat über die Jahrhunderte viele Dichter beflügelt, ihre eigene Übertragung dieser wunderschönen Texte zu versuchen: Von Minnedichtern des 13. und 14. Jahrhunderts über literarische Meister wie Goethe, Herder und Rückert bis hin zu den verschiedenen Übersetzungen unserer Zeit gibt es unzählige Fassungen davon allein in unserer Sprache.

Liebe und Beziehung

Aber was ist es, das diese alten Gedichte so besonders macht und immer wieder zu einer neuen Betrachtung anregt? Vielleicht ist es allein schon die Tatsache, dass sie in der Bibel stehen und damit eines der am leichtesten zugänglichen Beispiele erotischer Dichtung der damaligen Zeit sind. Aber vielleicht ist es auch ganz einfach die sprachliche Schönheit verbunden mit der bildreichen Erotik, die das Hohelied so anziehend macht. Denn die Texte sind zwar durchaus eindeutig, aber nie platt direkt oder geschmacklos pornographisch. Immer geht es um Liebe und Beziehung, nie nur eindimensional um Sex.

Auffällig ist dabei die absolute Gleichrangigkeit beider Partner. Manchmal spricht sie, manchmal er, beide kommen gleichermaßen zu Wort, beide gehen aufeinander zu, beide beschreiben ihre Sehnsucht, ihre Lust, ihre Freude am anderen, an seinem/ ihrem Körper und der gemeinsamen Liebe. Wer nun gerade spricht und handelt, fließt ineinander in einem Reigen von Versen, die nur schwer in einzelne Texte aufzuteilen sind und den Eindruck eines andauernd wechselnden Gebens und Nehmens erwecken.

Wertschätzend und eindeutig

In poetischen Bildern, die uns wegen ihres eigenen kulturellen Hintergrunds zugegeben manchmal etwas fremd sind, wird hier erotische Anziehung, körperliche Liebe, sexueller Genuss ganzheitlich geschildert, gepriesen, ersehnt, erträumt, dabei immer wertschätzend, immer auf Augenhöhe und dennoch durchaus eindeutig. Dabei sind alle Sinne beteiligt und alles ist hineingesetzt in eine Welt, die ein blühender Garten des Lebens ist und gleichzeitig immer auch doppeldeutig auf den Liebesakt selbst anspielt.

So spricht sie zum Beispiel: „Mit Küssen seines Mundes küsse er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe.“ (Hld 1,2) „Bis dorthin, wo der König an seiner Tafel liegt, gibt meine Narde ihren Duft. Ein Beutel Myrrhe ist mir mein Geliebter, der zwischen meinen Brüsten ruht.“ (Hld 1,12f.) „Wie ein Apfelbaum unter den Bäumen des Waldes, so ist mein Geliebter unter den Söhnen … Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen!“ (Hld 2,3) „Früh wollen wir … gehen und sehen, … ob die Rebenblüte sich öffnet, ob die Granatbäume blühen. Dort schenke ich dir meine Liebe.“ (Hld 7,13) „Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte! Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten!“ (Hld 4,16)

Und er vergleicht unter anderem: „Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, die Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weiden.“ (Hld 4,5) und antwortet ihr: „Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut, ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, ich esse meine Wabe samt meinem Honig, ich trinke meinen Wein samt meiner Milch. Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch an der Liebe!“ (Hld 5,1)

Von Gott gewollt und geschaffen

Diese Lyrik hebt Sexualität aus der Ebene der bloßen Fortpflanzung heraus, aber auch aus den moralischethischen Zusammenhängen der damaligen Gesellschaft, von denen in diesen Gedichten nie die Rede ist. So entsteht ein Preislied, das Erotik und die sexuelle Zugewandtheit der Menschen zueinander aus dem Alltag herauslöst und der Sexualität einen eigenen hohen Wert zuspricht. Die Redaktoren der Bibel haben diese Gedichte mit Sicherheit sehr bewusst für ihre Heilige Schrift ausgewählt und damit ganzheitlich gelebter, gleichberechtigter Liebe, Erotik, Sexualität eine Art Heiligsprechung geschenkt.

Das Alte Testament ist ja eine Sammlung von Texten, die im Laufe mehrerer Jahrhunderte von Gelehrten-Redaktionen, über die wir kaum etwas wissen, zusammengestellt wurde. Gerade in der letzten Phase der Entstehung (circa bis 100 vor Christus) haben diese Redaktoren den Glaubenserfahrungen und Gesetzen des Volkes Israels und seiner Geschichte auch philosophisch geprägte Weisheitstexte, Sammlungen von Lebensweisheiten, Sprichwörtern und so weiter und eben auch das Hohelied zur Seite gestellt.

Das gesamte menschliche Dasein sollte in die große Geschichte mit Gott einbezogen sein. Denn das Leben erzählt in allen seinen Dimensionen von Gott. In allen Dingen des Lebens können seine Spuren entdeckt werden. Mit der Aufnahme des Hohenlieds in die Bibel feiern die Redaktoren der Bibel Erotik, Sexualität als etwas Schönes, von Gott Gewolltes und Geschaffenes, in dem etwas von ihm aufscheint, auch wenn er in diesem Buch nie ausdrücklich beim Namen genannt wird.
(Susanne Deininger, Pastoralreferentin im Pfarrverband Dachau-St. Jakob.)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Kirche und Sexualität