Meinung
Kommentar zur Corona-Krise

Einschränkung aus Rücksichtnahme

Die Corona-Krise erfordert eine ganz neue Form von Rücksichtnahme. Ein Kommentar von Stefan Vesper, ehemaliger Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken.

In der Corona-Krise sind neue Formen der Rücksichtnahme gefragt, kein egoistisches „Augen zu und durch“. © imago images / bodenseebilder.de

In diesen Wochen überschlagen sich die Ereignisse. Das Land, ja Europa und die ganze Welt stehen vor einer noch nie da gewesenen Herausforderung. Das gemeinsame Ziel ist, die Corona-Pandemie zu bekämpfen. Vieles Unwichtige tritt jetzt zurück.

Konkret praktizierte Solidarität

In dem, was Tag für Tag berichtet, beraten, diskutiert und entschieden wird, überrascht eine „Erzählung“ oder ein Begründungsmotiv, das nicht unterschätzt werden sollte. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass alle Schutzmaßnahmen, alle Veranstaltungsabsagen und Schul- und Kindergartenschließungen auch dazu dienen, Alte und Schwache zu schützen, die besonders gefährdet sind.

Es geht also nicht nur darum, dass ich mich nicht infiziere, sondern dass ich, der ich den Virus vielleicht in mir trage, andere, darunter insbesondere die Alten und Schwachen, nicht anstecke. Was sich hier zeigt, kennt der christlich-sozial Engagierte als konkret praktizierte Solidarität. Man fühlt sich erinnert an den Satz von Alois Glück, dem langjährigen CSU-Fraktionsvorsitzenden im Bayerischen Landtag und Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der immer wieder fragte: „Wie schaffen wir es, dass eine Gesellschaft sich so verhält wie Eltern, die zum Wohle ihrer Kinder auf etwas verzichten, was nicht lebensnotwendig ist?“

Wir tun etwas, indem wir nichts tun

Wir tun etwas für andere, indem wir ihnen helfen, wie es gerade in vielen Häusern, Straßen und Nachbarschaften geschieht mit Einkaufshilfen für jene, die nicht hinausgehen können. Und wir tun etwas für andere, indem wir etwas nicht tun, nämlich indem wir die besonders Gefährdeten nicht anstecken. „Stay home – it could save lives“ posten viele Menschen in den Online-Plattformen. Tu du etwas, oder tu du etwas nicht, damit du andere nicht schädigst. Das ist Gemeinwohlorientierung. Oder, mit den Worten des Trainers des FC Liverpool Jürgen Klopp: „Natürlich möchten wir nicht in einem leeren Stadion spielen und möchten nicht, dass Spiele ausgesetzt werden. Wenn dies jedoch dazu beiträgt, dass eine Person gesund bleibt – nur eine –, werden keine Fragen gestellt.“

Denken an sich und an andere

1973 erhielt der Bericht des Club of Rome, eines Zusammenschlusses von Experten aus mehr als 30 Ländern, zur Lage der Menschheit mit dem Titel „Die Grenzen des Wachstums“ den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Unter anderem zeigten die Forscher um Denis und Donella Meadows eine Grundhaltung vieler Menschen auf, nämlich, stark verkürzt, dass das Denken an „mich“ und das Denken an „heute“ im Vordergrund steht – im Gegensatz zum Denken an den „anderen“ und das Denken an „morgen“ oder „übermorgen“.

Sie zeigten, dass – bei den einen aus Not, bei den anderen aus Gleichgültigkeit – die Aufmerksamkeit auf der Zeitskala von „kommende Woche“, über „die nächsten Jahre“, „meine Lebensspanne“, bis zu „Lebensspanne der Kinder“ kontinuierlich abnimmt. Das Gleiche gilt bezogen auf den Lebensraum mit abnehmender Rücksicht in der Skala „Familie“, „Nachbarschaft, Arbeit, Stadt“, „Nation“, „Erde“. Ich denke an mich und meine Familie, das scheint zur conditio humana zu gehören  – und zeigt sich heute in Hamsterkäufen.

Aber es gibt eben auch das Denken an andere, gerade in der jetzigen Situation. Die Zeichen der Solidarität und Rücksichtnahme, und die Bereitschaft zum wenn auch notgedrungenen „Verzicht“ in diesen Tagen, sind auch ein Ausdruck, das Wohl ihrer Stadt in den nächsten Wochen in das heutige Handeln einzubeziehen. Könnte daraus nicht die Kraft erwachsen, das Wohl meines Landes in meiner Lebensspanne, das Überleben der Erde in der Lebensspanne meiner Enkel in den Blick zu nehmen? Es wären durchaus Linien zu ziehen zur Enzyklika „Laudato si“ von Papst Franziskus.

Alles muss auf den Prüfstand

Freilich sind wir mitten in einem laufenden Geschehen. Der Verlauf der kommenden Wochen ist nicht abzusehen. Der gesunde Menschenverstand und die Erfahrung lassen vermuten, dass es noch Phasen der Wut, des Protestes, der Ermüdung, hoffentlich nicht der Verzweiflung geben wird. Die Wucht der Entscheidungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene wird noch durchschlagen. Wir sind längst nicht am Ende der Entwicklungen.

Aber der „kleine rote Faden“ in der Debatte, dieser mitschwingende Ton der Rücksichtnahme und der Verantwortung aller, lässt hoffen. Politik aus christlicher Verantwortung muss sich – auch wenn die Corona-Krise hoffentlich eines Tages überwunden sein wird – einer neu verstandenen Nachhaltigkeit stellen. Gemeint ist ein Handeln, das Entscheidungen heute im Blick auf die langfristigen Folgen fällt.

Genau wie heute mit Blick auf den Virus gilt es zu fragen: Wo schade ich, wo schaden wir durch heutiges Handeln schon jetzt lebenden Menschen, sie mögen hier in meiner Nähe wohnen und sehr weit weg. Und wo schadet mein Handeln heute, wo schadet unser Handeln heute künftig lebenden Menschen in der Nähe und Ferne. Unser Umgang mit den Ressourcen, unsere Nutzung der Atomkraft, unsere Mobilität bis hin zum Tempolimit auf Autobahnen, unsere Vorstellungen von Wohlstand und Wachstum – sie alle gehören auf den Prüfstand.

Vielleicht können wir hierzu aus dem Kampf gegen Corona lernen. Vielleicht sind wir schon dabei. Vielfach geht der Satz durchs Netz „Solidarität durch Einschränkung, um die Schwachen der Gesellschaft zu schützen.“ (Stefan Vesper)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Corona - Pandemie