„Dilatato corde“ – „Mit weitem Herzen“ – so lautete der Wahlspruch von Abt Odilo und so habe ich ihn immer erlebt. Diese beiden Worte aus dem Prolog der Benediktsregel hatte er verinnerlicht, das hat nicht nur uns Mitbrüder beeindruckt, es fasziniert bis heute viele Menschen. Wer Abt Odilo begegnete, der konnte etwas erfahren von der grenzenlosen Güte Gottes, der begegnete einem „Zeugen der Menschenfreundlichkeit Gottes“, wie ihn Kardinal Marx in seiner Predigt beim Requiem treffend bezeichnete.
Diskreter Ratgeber
In der klösterlichen Gemeinschaft erlebten wir unseren Abt als echtes Vorbild, der diszipliniert die Regel vorlebte und keinerlei Privilegien für sich in Anspruch nahm. Aufmerksam und sensibel konnte er auf Menschen zugehen, ihnen mit einem freundlichen Lächeln sein Ohr schenken, so dass es einem leicht fiel, ihm sein Herz vertrauensvoll zu öffnen. Gerne denke ich an die Gespräche, die ich als junger Mann vor meinem Eintritt mit meinen Zweifeln und Fragen mit ihm führen durfte. Auch später, als ich im äbtlichen Dienst ihm nachfolgen sollte, konnte ich immer zu ihm kommen und auf seine große Erfahrung bauen. Er hörte zu und blieb diskret in seinem Rat.
Abt Odilo war Geistlicher im eigentlichen Sinn des Wortes, der immer wieder die Tiefe suchte und andere an seiner Spiritualität feinsinnig und geistreich teilhaben ließ, ohne sich dabei aufzudrängen. Das haben die Menschen wohl in den unzähligen Büchern und Artikeln gespürt, die er geschrieben hat. In Vorträgen und Predigten, bei denen er sich meist nur an Stichworten orientierte, entwickelte er mit leicht geschlossenen Augen seine Gedanken. Mit seiner warmen Stimme und seiner leicht dialektgefärbten Sprache war er eher ein Mann der leisen Töne, die ja oft die bedeutenderen sind, weil sie die Sinne schärfen und zum stillen Nachdenken anregen.
Humorvoller Philosoph
Hinzu kam sein Interesse an unterschiedlichsten Weltanschauungen, wie es das Leben zu deuten gilt, welche Möglichkeiten es gibt, Erklärungen für das Sein zu finden. Hier war Abt Odilo ganz Philosoph, der den Dialog suchte, gerade auch mit der Kunst. In seinem Auftreten und seinen Ansprüchen war er äußerst bescheiden, etwa wenn er, da er keinen Führerschein hatte, mit seinem Fahrrad zu einem Termin fuhr und dort mit einem freundlichen Lächeln und einem guten Wort das Empfangspersonal begrüßte.
Mit Abt Odilo konnte man herzhaft lachen, liebte er es doch, mit einem Witz die Runde zu erheitern oder feinsinnig Anekdoten weiterzugeben, in denen er auch manch eigene Ungeschicklichkeiten selbstironisch mit anderen teilen konnte. So war die Mitra für ihn ein „Löschhörndl des Heiligen Geistes“ oder in seinem Büro herrschte kreatives Chaos, wie er humorvoll feststellte. Sein Terminkalender war meistens gut gefüllt, aber gestresst habe ich Abt Odilo nie erlebt. Freilich konnte es geschehen, dass er beim Zuhören eines Vortrags manchmal etwas müde meditativ die Augen schloss. Desto überraschender war es dann, wenn er bei der anschließenden Diskussion treffend das Wort ergriff.
Harmoniesüchtiger Lehrer
Unzählige Menschen haben Abt Odilo kontaktiert. Oft fiel es ihm schwer, nein zu sagen oder gar Konflikte einzugehen, was für sein näheres Umfeld nicht immer einfach war. Wie gerne hätte man manchmal mit ihm etwas „ausgerauft“, aber oft scheiterte dies am großen Respekt vor dem geistlichen Lehrer und dessen diplomatischem Geschick, Sachverhalte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Er war – wie er gerne zugab – „einfach harmoniesüchtig“. Hierin spiegelte sich sein Gottesbild, das er durch sein Beispiel weitergeben wollte. Abt Odilo glaubte an einen Gott mit weitem Herzen, der in seiner Vatergüte niemanden abweist, sondern alle willkommen heißen will. Oder wie er es formulierte: „Mein Wahlspruch bedeutet, dass wir darauf vertrauen dürfen, dass uns Gott führt und dass er in die Weite führt, nicht in die Enge.“ (Abt Johannes Eckert - Der Autor ist Nachfolger von Odilo Lechner als Abt der Benediktinerabtei St. Bonifaz in München und Andechs.)