Erinnerung an Frühgeborene

Die unvergessenen Kinder im Herzen

Neben dem Engelchen aus Stein dreht sich eine bunte Mühle im Wind. Grabstellen für Sternenkinder, die in der frühen Schwangerschaft sterben und unter 500 Gramm wiegen, fallen oft durch liebevolle Gestaltung auf. Was ihnen dieser Ort auf dem Friedhof bedeutet, berichten zwei betroffene Mütter.

Liebevoll gestaltetes Grab für Sternenkinder auf dem Münchner Westfriedhof © Karsten Schmid

Sie kniet sich hin, drückt ihre Hand flach auf die Erde und schließt die Augen. „Wenn ich den Schmetterling berühre, den wir für unser Kind bei der Beerdigung hingelegt haben, fühle ich mich ihm ganz nah.“ Einmal in der Woche geht Christiane Bauer* allein oder mit ihrem Mann zum alten St. Mauritz-Friedhof in Münster.

Dort ist „Purzel“, wie die Eltern ihr im Mai 2015 in der neunten Schwangerschaftswoche verlorenes Kind nennen, mit anderen Frühgeborenen gemeinsam beerdigt. „Wir wollten keine Einzelbestattung und fanden den Gedanken schön, dass unser Liebstes nicht allein ist“, sagt die 28-Jährige.

Begräbnis für die Allerkleinsten

Den Namen haben die Eltern ins Familienstammbuch eintragen lassen. „Damit ist es offiziell unser erstes Kind“, betont Christiane Bauer. „Dies ist seit 2013 aufgrund der Änderung des Personenstandsgesetzes nun auch für die Allerkleinsten unter 500 Gramm möglich, die ihren Weg nicht ins Leben geschafft haben“, erklärt Annegret Wolf, katholische Seelsorgerin am Franziskus-Hospital in Münster. Seitdem haben Eltern zudem in vielen Bundesländern das Recht, ihre verstorbenen Kinder bestatten zu lassen – unabhängig vom Gewicht. Die Pastoralreferentin, die dort die drei Mal im Jahr stattfindenden Trauerfeiern für Fehlgeborene zelebriert, begleitet die Mutter an diesem Morgen auf den Friedhof.

„Wenn ich mir vorstelle, dass solche Kinder früher wie Müll entsorgt wurden, bin ich dankbar, dass uns das alles erst heute passiert ist. So entsetzlich es ist, der würdevolle Abschied und der wundervolle Ort trösten uns“, versichert die Mutter. Sie zündet mitgebrachte Kerzen an und knipst trockene Knospen vom Rosenbaum ab, den sie jüngst gepflanzt hatte. „So Purzel, jetzt hast du es wieder schön“, meint sie schließlich.

Schmerz und Loslassen

In ihrem Schmerz fühlt sich die junge Frau von Außenstehenden häufig unverstanden. Verletzend empfindet sie Bemerkungen wie: ,Du wirst bestimmt noch Mutter’ oder ,Das war doch noch ganz klein’. Selbst die niedergelassene Gynäkologin habe, als sie den Tod des Kindes im Mutterleib feststellte, nicht von einem Menschen, sondern von „Zellgewebe“ geredet. „Das konnte ich gar nicht verstehen. Ich hatte das Kind wachsen gesehen: Es hatte Arme, hatte Beine, sein Herzchen hat geschlagen. Das war kein Gewebe.“ Es sei ihr schwer gefallen, ihr Baby loszulassen. „Mir war rational klar, dass es keine Alternative gab. Das Kind war ja tot.“ Dennoch habe sie es nicht verlieren und weiterhin beschützen wollen.

„Viele Menschen sind unsicher“, erläutert Seelsorgerin Wolf. Sie wollten trösten, fänden aber nicht die richtigen Worte. In der Informationsmappe „Trauer um die Kleinsten der Kleinen“, die sie für Betroffene in ihrer Klinik verfasst hat, schreibt sie: „Machen Sie sich darauf gefasst, dass solche Sprüche kommen werden und überlegen Sie, wie Sie sich schützen können.“ Jede Reaktion, ermuntert sie darin, habe ihre Berechtigung, „wenn Sie Ihnen hilft, sich vor Verletzungen zu bewahren“. Die Theologin pflegt eine sensible Wortwahl und spricht nicht von Fehlgeburt, sondern „stiller Geburt“. Die im Mutterleib verstorbenen Kinder bezeichnet sie als „Kinder im Herzen“ oder Stillgeborene, die Lebendgeborenen als „Kinder an der Hand“.

Gemeinsames Gedenken: Familie am Grab für Sternenkinder am Münchner Westfriedhof

Unterstützung durch die Klinikseelsorgerin

Gleich zweimal musste Manuela Schwarze bei Untersuchungen erleben, dass bei ihren ungeborenen Söhnen keine Herztöne mehr zu erkennen waren. „Das war wie ein Schlag ins Gesicht“, sagt die heute 37-Jährige. Max starb in der 20. Schwangerschaftswoche im Mai 2013, Mats in der 14. im Juli 2014.

„Wir hatten uns so lange ein Geschwisterchen für unseren Marcin gewünscht und waren über den positiven Test überglücklich“, erinnert sich die Mutter. Die Frage des „Warum?“ quälte sie nach der Entbindung von Max lange. Genauso wie Selbstzweifel. „Denn er war bis dahin ein kerngesunder Junge. Nichts deutete auf Komplikationen hin.“ Erst im Nachhinein habe sich eine Nabelschnurumwicklung herausgestellt. „Bei Mats war es anders“, berichtet die Mutter. „Er wäre definitiv nicht lebensfähig gewesen.“

Halt fanden ihr Sohn, ihr Mann und sie selbst bei ihrer großen Verwandtschaft, aber auch durch die Gespräche mit der Klinikseelsorgerin. „Frau Wolf war für uns ein Glücksfall in dieser schweren Zeit und half uns, eine Entscheidung zu finden, wie und wo wir unsere Kinder beerdigen lassen wollten.“ Denn die Schwarzes wünschten sich eine Beisetzung auf der Gedenkstätte im münsterländischen Havixbeck, „weil hier Eltern, Geschwister, Tanten und Cousinen leben“. Auf Wunsch übernahm die Theologin auch dort die Beisetzung und Trauerfeier.

Im September 2015 wurde Söhnchen Milan geboren. „Als unser Großer bei seiner Kommunionfeier das freudige Ereignis vor der Eröffnung des Buffets bekanntgab, dachte so mancher, wie man mir später erzählte: ,Eine mutige Entscheidung, dass die es noch einmal wagen’ .“ Doch sie habe sich in der ganzen Schwangerschaft rundum wohlgefühlt. Und „schocken“, räumt sie ein, hätte sie ohnehin nichts mehr können. „Wann immer ich Max und Mats besuche, nehme ich Milan mit und erzähle ihm genauso wie den beiden Sternchen, was so aktuell los ist.“ Die Grabstelle sei ein fester Bezugspunkt, im größerem Kreise an den Geburtstagen der Kinder. „Sie sind und bleiben ein wichtiger Teil unserer Familie.“

Die Erinnerung

Damit ihre verstorbenen Kinder präsent sind, haben sowohl Manuela Schwarze als auch Christiane Bauer zu Hause für sie eine Gedenkecke eingerichtet. Dort finden sich Erinnerungsstücke, wie die Ultraschallbilder, und es leuchten Kerzen. Für die Zukunft haben beide Mütter einen Herzenswunsch. „Unser Traum ist, dass wir irgendwann mit den Geschwisterkindern bei Purzel stehen können“, flüstert Christiane Bauer. „Es geht mir sehr viel besser, jetzt mit dem Kleinen...“, und zögernd fügt Manuela Schwarze hinzu: „Wobei wir vielleicht noch nicht fertig sind. Mal gucken!“

*Name auf Wunsch der Betroffenen geändert

(Von Heike Sieg-Hövelmann)

Dieser Artikel gehört zum Schwerpunkt Tod und Sterben