Überliefertes Brauchtum

Die emotionale Kraft der geistlichen Volkslieder

Religiöse Lieder wurden in den letzten Jahrhunderten nicht nur in der Kirche gesungen. Volksmusikarchivar Ernst Schusser über die Wurzeln, das Leben und den Gebrauch von geistlichen Volksliedern heute.

Geistliche Volkslieder begleiten das Leben der Menschen. © WoGi - stock.adobe.com

In den Volksliedsammlungen der letzten vier Jahrhunderte nehmen Lieder zum religiösen Leben der Menschen einen beträchtlichen Platz ein. Umfangreiche regionale Sammlungen der letzten 150 Jahre im süddeutschaltbayerischen Raum zum Beispiel von Pfarrer Josef Gabler (1824–1902), August Hartmann (1846– 1917) oder Konrad Scheierling (1924–1992) haben tausende von geistlichen Volksliedern aus dem lebendigen Volksgesang festgehalten und als immaterielles Kulturerbe vor dem Vergessen bewahrt.

Die erhalten gebliebenen Beispiele des volksfrommen Singens unserer Vorfahren legen Zeugnis ab von einer reichhaltigen Singkultur neben dem offiziellen Kirchengesang, im Leben der Menschen, bei den Jahresbräuchen, bei Wallfahrten und Andachten und vielen privaten Gelegenheiten ohne Führung durch Priester. Gerade in heutiger Zeit ermuntern diese überlieferten geistlichen Volkslieder als kraftvolle und vielfältige Dokumente des Glaubens zum sorgsamen Erneuern der Texte auf der Basis der Heiligen Schrift und zum Hereinnehmen in unsere Gegenwart, als Ergänzung der heute vorhandenen Kirchengesänge und als Impuls und Ansporn zum selber Singen.

Wohlwollende Aufnahme

Immer wieder sind beliebte und von den Gläubigen auswendig gesungene Lieder bei Reformen aus den offiziellen Kirchengesangbüchern herausgefallen und lebten im nichtoffiziellen Volksgesang als geistliche Volkslieder weiter. Bei der Gestaltung des Gotteslobes in den 1970er Jahren war es umgekehrt: Im Regionalteil der Erzdiözese München und Freising fand in einer kurzfristigen Aktion eine kleine Auswahl überlieferter geistlicher Volkslieder und neugestalteter Lieder der alpenländischoberbayerischen Volksliedpflege wohlwollende Aufnahme.

Dabei fällt die dreistimmige Fassung der Lieder, notiert nach dem Gesang der Volksliedpflegegruppen auf – manche Kirchenbesucher behinderte diese „optische“ Dreistimmigkeit beim Singen und Finden der einfachen Melodie.

Erfolgreiche Volksliedpflege

Die Grundlage, das Bewusstsein, dass solche Lieder auch ins offizielle Kirchengesangbuch der Diözese München und Freising aufgenommen werden sollten, lieferte die erfolgreiche Volksliedpflege in Oberbayern durch Kiem Pauli (1882–1960), Annette Thoma (1886–1974), Wastl Fanderl (1915–1991), Kurt Becher (1914–1996), Pfarrer Franz Niegel (1926–2017) und viele andere.

Gern können Sie sich mit Ihren Liedanfragen und Wünschen schriftlich an den Autor wenden:
Ernst Schusser
Friedrich-Jahn-Straße 3
83052 Bruckmühl
oder ernst.schusser@heimatpfleger.bayern

Interessenten sind auch herzlich zu einem Fortbildungstag am Samstag, 13. November, in Schloss Hartmannsberg (Landkreis Rosenheim) eingeladen, bei dem zahlreiche geistliche Volkslieder für den Advent vorgestellt und gemeinsam gesungen werden.

Tobi Reiser (1907–1974) und Kiem Pauli hatten nach dem Zweiten Weltkrieg zeitgleich die Adventssingen in Salzburg und München ins Leben gerufen. Schon 1933 hatte Annette Thoma zum Namenstag von Kiem Pauli ihre „Deutsche Bauernmesse“ mit liturgienahen Texten auf überlieferte Volksmelodien für die „Riederinger Sänger“ neugestaltet, die in der Folge zu heftigen Diskussionen von Kirchmusikern Anlass gab. In falsch verstandener Nachahmung entstanden dann zahlreiche „Mundartmessen“, während Thoma ja bewusst eine „deutsche“ Sprache wählte. Die Diskussion über die Sprache der geistlichen Volkslieder und deren Gebrauch in Gottesdiensten erhielt durch das Zweite Vatikanische Konzil neue Impulse und dauert bis heute.

Anziehungskraft neu entfalten

Bei der Erneuerung des „Gotteslobes“ (2013) wurde der Eigenteil des Erzbistums München und Freising bewusst umfangreicher gestaltet. Auch hier fanden viele neue Musikstile von geistlichen Liedern Platz und beliebte „alte“ Lieder fanden wieder Beachtung.

Aber auch der Anteil der geistlichen Volkslieder wurde erweitert. Zu den dreistimmigen Gesängen der Volksliedpflege wie „Als Maria übers Gebirge ging“ von Annette Thoma (Nr. 751) kam eine Reihe von einstimmig notierten überlieferten und auf der Basis der Überlieferung neugestalteten Liedern wie zum Beispiel „Wohlauf und lasst uns singen all“ aus der Sammlung Scheierling, neu gestaltet von Kurt Becher (721).

In der Reihe „Das geistliche Volkslied das Jahr hindurch“ beschäftigen wir uns seit circa 1980 unterstützt von Pfarrer Hans Durner (1928–2020) mit der Auswahl und sorgsamen Neugestaltung von geistlichen Volksliedern aus alten Sammlungen (siehe GL 750, 792, 797, 839). Ausgehend von Fortbildungstagen im Bildungswerk Rosenheim versuchen wir die emotionale Kraft der geistlichen Volkslieder und ihre Anziehungskraft auch für kirchenfernere Menschen in Verbindung mit dem christlichen Glaubensverständnis und dem ökumenischen Gedanken neu zu entfalten und geistliche Volkslieder für das ganze Jahr und das ganze Leben der Menschen zur Verfügung zu stellen.

(Ernst Schusser war bis 2020 fast 35 Jahre Leiter des Volksmusikarchivs und der Volksmusikpflege des Bezirks Oberbayern in Bruckmühl.)

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