Sie lernten sich beim Floorball kennen, einer Hallensportart, ähnlich wie Hockey. Sie spielte in der Mädchen-, er in der Jungenmannschaft. Zarguna war damals 17, Simon 18 Jahre alt. Nach einem Spiel kam er auf sie zu. Es war nur ein kleiner Wortwechsel zwischen Teenagern, ohne Gedanken, was daraus folgen könnte. „Als ich zu Hause war, hatte ich gleich eine Freundschaftsanfrage auf Facebook. So fing alles an“, erzählt Zarguna. Erst schrieben sie sich Nachrichten. Irgendwann haben sich die beiden dann getroffen – und irgendwann ineinander verliebt. Wann genau, das können sie heute nicht mehr sagen. Das alles liegt mittlerweile zehn Jahre zurück.
Niemand darf von der Beziehung wissen
Es ist Ende des Jahres 2021, kurz vor Weihnachten. Vom Balkon sieht man schneebedeckte Häuserdächer und auf dem kleinen Esstisch steht ein Teller mit selbstgebackenen Plätzchen, daneben eine Schale mit Datteln und Walnüssen. Seit ein paar Monaten wohnt das Paar jetzt gemeinsam in Simons kleiner Zweizimmerwohnung im Münchner Westen. Die Einrichtung ist schlicht: ein großes Sofa, ein großer Fernseher, daneben der Esstisch, der sich an die Küchenzeile gliedert.
An dem Tisch sitzen Zargunas zwei jüngere Schwestern. Sie kennen Simon von Anfang an. Während Zarguna lebhaft erzählt, was die letzten zehn Jahre passiert ist, bleibt Simon meist ruhig, doch wenn er spricht, dann bringt er die Dinge auf den Punkt: „Ich kenne bis heute niemanden, mit dem ich mich so gut verstehe, mit dem ich so viel Spaß habe, ohne mich je verstellen zu müssen“, sagt er. Er ist knapp einen Kopf größer als sie und strahlt eine stoische Ruhe aus. Zarguna ist offenherzig, spricht mit ihren Augen, lächelt viel, neckisch und mitreißend.
Untereinander verstehen sie sich auch ohne Worte; zwei Menschen, die sich einig sind und sich von Anfang an einig waren. „Das einzige, was immer zwischen uns stand, war, dass lange keiner von uns wissen durfte“, erzählt Zarguna. „Jedenfalls aus meiner Familie.“
Langes Versteckspiel
Zarguna wächst in einer muslimischen Familie in München auf. Ihre Eltern kommen ursprünglich aus Afghanistan. Simon, der aus einer katholischen Familie in Landsberg am Lech stammt, erzählte seinen Eltern sehr früh, dass er eine Freundin habe. Doch auf der anderen Seite wurde ein jahrelanges Versteckspiel gespielt, auch als Zarguna bereits Wirtschaftsrecht in München studierte und Simon in derselben Stadt Bauingenieurswesen. Wenn sie sich trafen, war Zarguna offiziell meist bei einer Freundin.
Nur ihre zwei jüngeren Schwestern und die Mutter wurden eingeweiht. Ihr Vater durfte nichts davon wissen. Für Simon war das schwer zu begreifen: „Ich war immer dafür, dass sie es ihrem Papa sagt. Aber sie wollte das nie“, sagt er. Alle sprachen sich ab und erfanden Geschichten. Zargunas jüngere Schwester erzählt im Rückblick: „An Weihnachten oder Silvester, wenn Zarguna zu Simons Familie gegangen ist, dann haben wir alle gelogen. Wir haben alles vorher abgesprochen, damit wir das Gleiche sagen.“ Wenn man sie nach dem „Warum“ fragt, dann antwortet die Schwester, dass sie alle keine Wahl gehabt und Angst vor der Reaktion gehabt hätten. Im Islam dürfe man nicht einfach einen Freund oder eine Freundin mit nach Hause bringen.
Alte Heimat, neue Heimat
Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) leben in Deutschland circa 5,5 Millionen Musliminnen und Muslime, die 6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Doch hinter dieser Zahl verbirgt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher Biografien. Diese Zahl allein beschreibt nicht die Nuancen und Lebenslinien der Menschen mit ihren kulturellen Hintergründen, ihrem Leben in der Fremde, und erzählt auch nicht, wie
wichtig ihnen der Glaube ist.
Die Zahl allein sagt auch nichts über die Angst, die ausgelöst wird, wenn sich die Tochter in einen Deutschen verliebt, wenn die neue Heimat damit droht, einem die alte zu entreißen. Zarguna und ihre Schwestern kennen die Heimat ihres Vaters nicht, haben Afghanistan nie besuchen können. Sie wissen, dass er fliehen musste und dass seine Familie auf der ganzen Welt verstreut lebt. Sie wissen, dass es ihm wichtig ist, dass seine Töchter Bildung erhalten und auf eigenen Beinen stehen. Und sie wissen, dass er an Gott glaubt.