München – Eigentlich fehlt nur noch der passende Lippenstift. Mila will morgen auf der Hochzeit, zu der sie eingeladen ist, hübsch aussehen. Sie hat ein neues Kleid gekauft, weiß genau welche Schuhe sie dazu tragen will, welche Handtasche – nur der passende Lippenstift fehlt eben noch. Mila ist 18, sie ist ein wirklich bildhübsches Mädchen und im Grunde bräuchte sie diesen Lippenstift überhaupt nicht. Aber wie das nun mal so ist, wenn man 18 ist, da muss es die genau richtige Farbe sein und deswegen fragt Mila ihre Mutter, ob sie sie schnell mit dem Auto zum Drogeriemarkt fahren kann. Warum Monika, die Mutter, nein sagt, ob sie wirklich keine Zeit gehabt hat oder einfach nur keine Lust darauf, das Mädchen die zwei Straßen weiter zu kutschieren, weiß heute niemand mehr. Zu alltäglich ist die Situation, als dass man sie sich merken würde.
München in Wut und Trauer
Und doch wird dieser Lippenstift, besser gesagt, das Fehlen desselben, eine immense Bedeutung bekommen. Vermutlich für immer wird er unauslöschlich verbunden sein, mit einem der schlimmsten Tage, die Mila und ihre Mutter bis dahin erlebt haben. Denn während die beiden sich darüber unterhalten, ist ganz in der Nähe ein 18-jähriger Junge kurz davor, eine Tragödie ins Werk zu setzen, die neben unsagbarem Leid viele Menschen dazu bringen wird, sich für alle Zeiten an Dinge zu erinnern, an die sie nie mehr gedacht hätten, stünden sie nicht im Zusammenhang mit dem später so genannten Amoklauf von München. Zehn Menschen werden sterben an diesem Freitag, an diesem 22. Juli, viele werden verletzt werden am Körper und an der Seele, ganz München wird für viele Stunden unter einer Glasglocke von Angst, Entsetzen, Wut und Trauer stehen. Und so wie Mila und ihre Mutter werden unzählige Menschen wissen, was sie getan haben, als der junge Mann seine Waffe gezogen, entsichert und wild um sich geschossen hat auf Frauen, Männer und Kinder.
Welle der Angst
Mila wird zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung fällen, die banaler nicht sein könnte. Sie sitzt in der U-Bahn Linie 3, die gleich an der Haltestelle „Olympia-Einkaufszentrum“ (OEZ) einfahren wird. Mila hat die Wahl: Sie kann aussteigen, schnell in den Laden im OEZ laufen, den Lippenstift kaufen, wieder zur U-Bahn zurück gehen und dann noch die restlichen beiden Stationen fahren, um zu ihrem Freund zu kommen, mit dem sie verabredet ist. Oder sie fährt einfach weiter und verschiebt den Einkauf auf später. Mila wird nicht aussteigen. Sie wird das richtige tun ohne auch nur zu ahnen, wie verheerend falsch die andere Entscheidung gewesen wäre.
Etwa zur selben Zeit klingelt bei Monika zu Hause das Handy: Milas Schwester ist dran, sie spricht schnell, atemlos, lauter als sonst, sie schreit beinahe: „Mama wo bist du? Wo ist Mila? Was macht ihr? Geht´s euch gut?“ Monika beantwortet Kathis Fragen ruhig und zunächst arglos. Aber natürlich dämmert ihr jetzt, dass irgend etwas nicht stimmt, ganz gewaltig nicht stimmt. Warum dieser Anruf, warum diese Aufregung? Angst überfällt sie, namenlos noch, aber ansteigend wie eine Welle. Und als Kathi dann hastig erzählt, was zeitgleich an unzähligen anderen Telefonen in München erzählt wird, beginnt Monikas Herz zu wummern. Ihr wird heiß, sie zittert, die Gedanken rasen. Mila! Lippenstift, OEZ, U-Bahn, Schüsse ...