Posttraumatische Belastungsstörung

Das sind die Nachwirkungen des Amoklaufs

Fast vier Wochen sind nach dem Amoklauf in München vergangen. Die polizeilichen Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Die ersten Erfolge wurden erzielt. Wie aber geht es den Menschen, deren Leben am 22. Juli ins Wanken geraten ist?

Eine Postraumatische Belastungsstörung kann auch erst nach Tagen, Wochen oder sogar Jahren auftreten. (Bild: imago) (Bild: imago) © imago

München – Eigentlich fehlt nur noch der passende Lippenstift. Mila will morgen auf der Hochzeit, zu der sie eingeladen ist, hübsch aussehen. Sie hat ein neues Kleid gekauft, weiß genau welche Schuhe sie dazu tragen will, welche Handtasche – nur der passende Lippenstift fehlt eben noch. Mila ist 18, sie ist ein wirklich bildhübsches Mädchen und im Grunde bräuchte sie diesen Lippenstift überhaupt nicht. Aber wie das nun mal so ist, wenn man 18 ist, da muss es die genau richtige Farbe sein und deswegen fragt Mila ihre Mutter, ob sie sie schnell mit dem Auto zum Drogeriemarkt fahren kann. Warum Monika, die Mutter, nein sagt, ob sie wirklich keine Zeit gehabt hat oder einfach nur keine Lust darauf, das Mädchen die zwei Straßen weiter zu kutschieren, weiß heute niemand mehr. Zu alltäglich ist die Situation, als dass man sie sich merken würde.

München in Wut und Trauer

Und doch wird dieser Lippenstift, besser gesagt, das Fehlen desselben, eine immense Bedeutung bekommen. Vermutlich für immer wird er unauslöschlich verbunden sein, mit einem der schlimmsten Tage, die Mila und ihre Mutter bis dahin erlebt haben. Denn während die beiden sich darüber unterhalten, ist ganz in der Nähe ein 18-jähriger Junge kurz davor, eine Tragödie ins Werk zu setzen, die neben unsagbarem Leid viele Menschen dazu bringen wird, sich für alle Zeiten an Dinge zu erinnern, an die sie nie mehr gedacht hätten, stünden sie nicht im Zusammenhang mit dem später so genannten Amoklauf von München. Zehn Menschen werden sterben an diesem Freitag, an diesem 22. Juli, viele werden verletzt werden am Körper und an der Seele, ganz München wird für viele Stunden unter einer Glasglocke von Angst, Entsetzen, Wut und Trauer stehen. Und so wie Mila und ihre Mutter werden unzählige Menschen wissen, was sie getan haben, als der junge Mann seine Waffe gezogen, entsichert und wild um sich geschossen hat auf Frauen, Männer und Kinder.

Welle der Angst

Mila wird zu diesem Zeitpunkt eine Entscheidung fällen, die banaler nicht sein könnte. Sie sitzt in der U-Bahn Linie 3, die gleich an der Haltestelle „Olympia-Einkaufszentrum“ (OEZ) einfahren wird. Mila hat die Wahl: Sie kann aussteigen, schnell in den Laden im OEZ laufen, den Lippenstift kaufen, wieder zur U-Bahn zurück gehen und dann noch die restlichen beiden Stationen fahren, um zu ihrem Freund zu kommen, mit dem sie verabredet ist. Oder sie fährt einfach weiter und verschiebt den Einkauf auf später. Mila wird nicht aussteigen. Sie wird das richtige tun ohne auch nur zu ahnen, wie verheerend falsch die andere Entscheidung gewesen wäre.

Etwa zur selben Zeit klingelt bei Monika zu Hause das Handy: Milas Schwester ist dran, sie spricht schnell, atemlos, lauter als sonst, sie schreit beinahe: „Mama wo bist du? Wo ist Mila? Was macht ihr? Geht´s euch gut?“ Monika beantwortet Kathis Fragen ruhig und zunächst arglos. Aber natürlich dämmert ihr jetzt, dass irgend etwas nicht stimmt, ganz gewaltig nicht stimmt. Warum dieser Anruf, warum diese Aufregung? Angst überfällt sie, namenlos noch, aber ansteigend wie eine Welle. Und als Kathi dann hastig erzählt, was zeitgleich an unzähligen anderen Telefonen in München erzählt wird, beginnt Monikas Herz zu wummern. Ihr wird heiß, sie zittert, die Gedanken rasen. Mila! Lippenstift, OEZ, U-Bahn, Schüsse ...

Vier Wochen sind nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum vergangen. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. (Bild: imago)
Vier Wochen sind nach dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum vergangen. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. (Bild: imago)

Erinnerung an Horror-Minuten

An der Stelle bricht Monika den Bericht ab. Die Erinnerung an diese Horror-Minuten sollen ihr jetzt, vier Wochen später, nicht mehr so nahe kommen. Deswegen kürzt sie die Geschichte auch ab und sagt nur noch: Mila war bei ihrem Freund. Ein Satz wie eine Erlösung. Damals und auch jetzt. Alle waren in Sicherheit, die sich aber nicht so anfühlte. Mila im Elternhaus ihres Freundes, Kathi in ihrer Studenten-WG in einem weit entfernten Münchner Stadtteil und Monika zuhause in Moosach. Alle drei werden den Rest des Abends vor dem Fernseher verbringen. Sie werden sehen, was so viele sehen und nicht begreifen. Sie werden weinen, aufatmen, an andere denken, Angst haben, sich beruhigen und immer wieder den Kopf schütteln. Alle drei telefonieren viel an diesem Abend, erkundigen sich nach anderen oder werden angerufen und können auf bange Nachfragen beruhigende Antworten geben. Alle drei werden viel erzählen und immer wird es in den Berichten auch um einen Lippenstift gehen.

Immer noch Alpträume

Vier Wochen sind seitdem vergangen. Die Welt ist nicht stehen geblieben, sie hat nur für einen Moment den Atem angehalten. Mila hat Sommerferien, die letzten vor dem Abitur. Kathi will ein Auslandssemester in England machen und Monika überlegt, ob sie einen Tanzkurs anfangen soll. Der Amoklauf – in den ersten Tagen danach gab es kein anderes Thema in dem kleinen Moosacher Reihenhäuschen – verkrümelt sich langsam in eine Ecke des Bewusstseins. Verschwunden ist er nicht und wird es wohl auch nie sein. Besonders Mila hat noch zu kämpfen. Sie hat drei Jugendliche gekannt, die gestorben sind. Alle waren auf derselben Schule. Ins OEZ kann sie seither nicht mehr gehen und dabei ist sie hier auf diesem Gelände doch quasi aufgewachsen, hat sich früher immer mit den Freunden dort verabredet. Die McDonald´s Filiale, die für die Kids irgendwann mal so vertraut war wie der heimische Esstisch – so schnell wird es da keinen Besuch mehr geben. Mila hat immer noch Alpträume und bislang ist nicht klar, ob und wie sie damit fertig wird.

Heute Abend ist sie zu einem Geburtstagsfest eingeladen. Sie fragt Monika, welches Kleid sie anziehen soll. Das rote. Mila sieht so hübsch aus. Das Kleid, die dunklen Locken, die ganz dezent mit Wimperntusche geschminkten Augen. Monika wünscht ihr viel Spaß, Mila winkt und lächelt, als sie zur Haustüre hinaus geht. Sie trägt keinen Lippenstift. (Susanne Holzapfel)

Posttraumatische Belastungsstörung
Infolge eines traumatischen Erlebnisses kann es zu einer so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) kommen. Hierbei handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die sehr unterschiedliche Ursachen haben kann, etwa eine Naturkatastrophe, ein schwerer Unfall oder ein gewalttätiger Angriff. Die Bedrohung muss dabei nicht zwangsläufig die eigene Person betreffen, ein Trauma kann auch dann entstehen, wenn man Augenzeuge eines Angriffs oder einer Bedrohung wird. Mögliche Beschwerden sind Alpträume, Angstzustände, Übererregbarkeit, Depressionen, Suchtverhalten bis hin zu Selbstverletzungen und Selbstmordgedanken. Oftmals hat der Betroffene aufgrund der erlebten Erschütterung auch das Gefühl von Hilflosigkeit. Eine PTBS kann sofort nach einem traumatischen Ereignis auftreten oder aber auch erst nach Tagen, Wochen oder sogar Jahren.

Andreas Müller-Cyran ist Notall-Seelsorger. (Bild: Sankt Michaelsbund)
Andreas Müller-Cyran ist Notall-Seelsorger. (Bild: Sankt Michaelsbund)

Andreas Müller-Cyran ist Notfall-Seelsorger und leitet die Abteilung Krisenpastoral im Erzbischöflichen Ordinariat. Ein Interview über die Nachwirkungen des Amoklaufs:

Der Amoklauf von München liegt nun schon einige Wochen zurück. Viele Menschen, die ihn miterlebt haben, leiden noch immer an den Folgen, selbst wenn sie nicht verletzt worden sind. Warum ist das so?

Müller-Cyran: Tatsächlich: Bei den Menschen, die körperlich verletzt wurden, heilen die Wunden und werden zu Narben. Noch viel mehr Menschen als die körperlich verletzten mussten in jener Nacht die Erfahrung machen, dass die Umgebung, in der sie zuhause sind und sich ein Leben lang immer sicher fühlen konnten, mit einem Mal nicht mehr sicher ist. Da läuft ein Mensch herum, der auf andere schießt! Das erschüttert jeden zutiefst. Wir wissen, dass Menschen, die – vielleicht auch nur einige Sekunden! – Todesangst hatten, zum Teil lange mit der Verarbeitung zu tun haben. Dabei geht es gar nicht um die Frage, ob die Bedrohung tatsächlich real war. Es gab in der Nacht auch Menschen an anderen Orten und Plätzen unserer Stadt, die sich bedroht fühlten und die Situation kurzzeitig so interpretierten, dass geschossen wird – und sie das vielleicht nicht überleben. Heute wissen wir: Es war ein Täter im Raum des OEZ. Damals wusste aber auch die Polizei nicht genau, was los war. Für die seelische Verarbeitung zählt nicht, was wir hinterher an Gewissheiten haben, sondern was wir in der konkreten Situation fühlen und erleben. Und da war es so, dass viele Menschen um ihr und das Leben ihrer Lieben gebangt haben. Diese Erfahrung ist einschneidend. Kein Wunder, dass sie Spuren auf der Seele hinterlässt.

Welche Symptome könnten da-rauf hindeuten, dass eine Traumatisierung vorliegt?

Müller-Cyran: Wir unterscheiden zwischen seelischen Veränderungen, die unmittelbar nach der Erfahrung von Angst und Schrecken auftreten, und den Veränderungen, die nach Wochen noch da sind. Alle seelischen Veränderungen, die unmittelbar mit dem Entsetzen spürbar werden, sind die normale Reaktion eines normalen und gesunden Menschen auf ein völlig unnormales Ereignis! Diese Veränderungen werden bald besser und hören nach ein paar Tagen auf. Man sollte aufmerksam sein, wenn nach drei bis vier Wochen immer noch Veränderungen da sind: zum Beispiel das Gefühl, dass man sich in vertrauter Umgebung fremd und unverstanden fühlt, dass die Welt zutiefst nicht mehr so ist, wie sie vorher war, dass man das Gefühl hat, keine Zukunft mehr zu haben. Wenn das bleibt, dann ist das kein Schicksal, das man von nun an für immer zu ertragen hat, sondern man kann was dagegen tun! Je früher, desto besser!

Was sollten diejenigen tun, die weiterhin Alpträume haben oder Angstzustände? Wann ist es nötig, sich in professionelle Hände zu begeben?

Müller-Cyran: Wer jetzt, also mehr als vier Wochen nach dieser Erschütterung, noch immer jede Nacht Alpträume hat und wer so starke Angst hat, dass er nicht in sein altes Leben zurück findet, der sollte sich individuell beraten lassen.