Eine Lichtgestalt ist er gewesen in der angepassten Christenheit in den aufgewühlten Elendsjahren nach dem Ersten Weltkrieg. Die bayerische Landeshauptstadt wurde zum Sammelpunkt gescheiterter Existenzen und revolutionärer Wirrköpfe jeder Couleur. Und auch der Männerseelsorger Rupert Mayer war eine problematische Figur: Von keinem Parteibonzen ließ er sich den Mund verbieten, der kantige Jesuit. Aber er hat auch so gut wie nie die Bedingungen hinterfragt, die den Nazis ihren Aufstieg ermöglichten: die Sehnsucht nach dem starken Staat, die auch im katholischen Lager verbreitete Republikfeindlichkeit, die Kollaboration von Kirchenführern und akademischen Größen mit den neuen Herren. Mayer blieb im Grunde immer der patriotische Frontseelsorger und mit zahlreichen Orden dekorierte Veteran des Ersten Weltkriegs. Was ein echter bayerischer Soldat sei, so predigte er seinen Kameraden regelmäßig, der wisse eben auch, was er seinem Herrgott schulde. Bayerns populärster Priester kam in Stuttgart zur Welt, 1876, in einer Kaufmannsfamilie. Er war ein kränkliches, behütetes Kind und dennoch ein begeisterter Turner und Schwimmer, ein Pferdenarr, der später als Theologiestudent gern in Reitstiefeln zu den Vorlesungen kam und in seiner Studentenverbindung als der beste Fechter galt. Grimmig verteidigte der kleine Rupert seinen Katholizismus in der württembergischen Diaspora (88 Prozent der Stuttgarter waren Lutheraner), indem er protestantische Spötter in der Schule verprügelte.
Neue Wege der Großstadtseelsorge
„Aus Liebe zu den Menschen“, wie er kurz angebunden erklärte, wollte er in den damals im Deutschen Reich verbotenen Jesuitenorden eintreten. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg begann er in München neue Wege der Großstadtseelsorge zu erproben. Die bayerische Hauptstadt hatte damals schon über eine halbe Million Einwohner, und jedes Jahr kamen bis zu zehntausend Menschen hinzu, die hier Beschäftigung suchten: Arbeiter, Arbeiterinnen, Dienstmädchen. Abend für Abend machte Pater Mayer fünf bis sechs Hausbesuche bei den Neuzugezogenen, informierte über Gottesdienstangebote und kirchliche Verbände, aber auch über soziale Einrichtungen. Er scharte Gruppen engagierter Laien aus der Jugend und den Arbeitervereinen um sich, schulte sie in regelmäßigen Zusammenkünften und schickte sie ebenfalls in die Häuser.
Politik auf der Kanzel
Als der Krieg ausbrach, meldete er sich sofort an die Front, barg Verwundete im Geschützfeuer, unterschied dabei nicht zwischen Freund und Feind. Als einbeiniger Invalide nach München zurückgekehrt, baute er dort eine erfinderische Sozialarbeit mit Brotgutscheinen, Kohlelieferungen und Jobvermittlung auf, hielt bis zu 70 Predigten im Monat, saß trotz der schmerzhaften Kriegsverletzung – 1916 hatte er an der Ostfront ein Bein und ein Stück des Oberschenkels verloren – samstags bis zu sieben Stunden im Beichtstuhl.
Seine freimütigen Predigten schlugen sich bei der Polizeidirektion in einer dicken Akte nieder. 1936 wurde Mayer von der Staatsanwaltschaft verwarnt: Politik auf der Kanzel, das gehe im heutigen Staat nicht mehr. Schließlich erteilte ihm im April 1937 die Berliner Gestapo-Zentrale ein Redeverbot für das ganze Deutsche Reich, was Pater Mayer schlicht ignorierte. Kurz darauf wurde er verhaftet.
Ein „Wahrheitsfanatiker“
Am 22. Juli 1937 begann der Prozess gegen Pater Mayer vor dem Sondergericht München. Ein politischer Prozess, der sich auf politische Ausnahmegesetze stützte: Angeklagt war er wegen „Kanzelmissbrauchs“ (der Paragraph stammte noch aus der Kulturkampf-Ära Bismarcks) und wegen fortgesetzten Vergehens wider das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat“ (1934 erlassen). Über Rupert Mayer verhandelten noch keine fanatischen Blutrichter vom Schlage Freislers. Es sind typische Mitläufer gewesen, bemüht, die Erwartungen der übergeordneten Behörden nicht zu enttäuschen und dem Angeklagten mit einem Rest von Fairness dennoch goldene Brücken zu bauen.