Aufstiegswege durch Sozialsystem stärker fördern

Arme Kinder brauchen Menschen, die sie unterstützen

Wie können Menschen aus längerer Arbeitslosigkeit und finanzieller Notlage, wieder herausfinden? Kann der Staat das gezielt anstossen? Der frühere Caritas-Generalsekretär Georg Cremer plädiert dafür, nicht nur Geld, sondern auch Chancen besser zu verteilen. So sollte mehr Kindern aus benachteiligten Milieus trotzdem eine gute Bildungskarriere gelingen.

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München/Freiburg - Herr Professor Cremer, ist es schon gute Sozialpolitik, wenn viel Geld umverteilt wird aus Steuereinnahmen?

Ein leistungsfähiger Sozialstaat muss umverteilen, wir haben eine Marktökonomie, die erzeugt auch Ungleichheit, unterschiedliche Einkommen. Also brauchen wir eine Umverteilung, etwa durch lohnabhängige Beiträge und Steuern, Sozialhilfe.
Aber ich glaube, wir müssen wahrnehmen, dass Geld allein Gerechtigkeit nicht herstellen kann. Wenn also ein Fünftel der Kinder in Deutschland nicht richtig lesen kann, nicht die Voraussetzungen erreicht hat, eine gute Ausbildung zu machen, dann ist ein Leben in Prekarität und Armut vorgezeichnet. Und da heißt Umverteilung, ein starker Sozialstaat muss auch stark sein für Bildung und gute Ausbildung.  Wir müssen Sozialpolitik, Bildungspolitik und Arbeitsmarktpolitik zusammen betrachten.

Also auch Chancen müssten gerechter verteilt sein, die man ergreifen kann auf allen Ebenen der Gesellschaft?

Das ist ein Ziel, das immer wieder benannt wird, aber ich finde, es spielt eigentlich in der faktischen Sozialpolitik eine zu geringe Rolle. Wenn sie jetzt die Bundestagswahl sehen, soweit überhaupt Sozialpolitik vorkommt, sind es verständlicherweise Themen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Aber der Blick auf diejenigen, die abgehängt sind, der ist nicht so präsent.

Und ich bin sicher, dafür brauchen wir nicht nur Elemente der Umverteilung, sondern eine bessere Art, wie vor Ort kooperiert wird, um Familien in Notlagen zu erreichen. Wir haben in unserem Sozialstaat ein sogenanntes Präventionsdilemma, also die vielfältigen Hilfen erreichen die Mittelschicht besser, als diejenigen, die dringend auf sie angewiesen sind. So nehmen zum Beispiel gut ausgebildete Mütter die Dienste der Hebammen nach der Geburt viel häufiger in Anspruch als Mütter in prekären Lebenslagen.

Dass die Verteilung von Chancen in Deutschland wenig gerecht ist, lässt sich auch an zahlreichen Bildungsstudien sehen. Sind das nicht Fakten, die einen Sozialstaat zum Handeln auffordern sollten?

Was heißt denn Chancengerechtigkeit? In einem engen Verständnis bedeutet das nur, jeder soll Zugang zu Bildung, zu Jobs bekommen nach den Qualifikationen, die er mitbringt. Aber dieses Konzept ist eben blind gegenüber der Ungleichheit der sozialen Herkunft. Wenn wir Chancengerechtigkeit in einem weiteren Sinne verstehen, dann kommen wir zum Konzept der Befähigungsgerechtigkeit. Tut das Sozialsystem, das Bildungssystem genug, tun alle Akteure dieses Sozialstaats das ihnen Mögliche, dass diese Unterschiede der sozialen Herkunft wenn auch nicht ausgeglichen, aber zumindest deutlich gemildert werden? Der internationale Vergleich zeigt: Da ist mehr möglich.

Wie können Aufstiege aus dem sozialen Abseits besser gelingen als das im Moment der Fall ist?

Es gibt Menschen, die entmutigt sind. Die sich, etwa durch eine lange Arbeitslosigkeit oder Überlastung als Alleinerziehende, nicht mehr zutrauen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, die aber von Hilfsangeboten gar nicht erreicht werden. Aber es ist in vielen qualitativen Interviews dokumentiert, es gibt Menschen, die den Aufstieg aus diesen Milieus geschafft haben. Und oft war es so, dass diese auf Menschen gestoßen sind, Nachbarn, eine Grundschullehrerin, Sozialarbeiter – Menschen, die sie ermutigt haben und als Paten gewirkt haben. Solche Aufstiegswege muss ein Sozialsystem stärker unterstützen,

Aber das lässt sich eher schwer planen, dass da ein Mensch ist, der Unterstützung bieten kann. Was ist nötig für diesen Befähigungsansatz?

Hier ist der sozialpolitische Diskurs zu verkürzt. Wenn es um die Umverteilung von Geld geht, dann ist überwiegend die Bundesebene gefordert. Wenn wir aber auf die Ebene der Befähigung schauen, dann sind die Länder, die Kommunen und dann ist auch die Zivilgesellschaft gefordert. Die Länder verantworten die Bildungspolitik. Man kann die nicht-gymnasialen Schulen besser fördern und ausstatten. Man muss in der bürgerlichen Mitte dann dafür werben, dass diese Kinder in kleineren Klassen unterrichtet werden, dass es dort Förderlehrer gibt. Und man kann die Kitas in Brennpunkten besser ausstatten, vor allem mit Personal. Denn: Arme Kinder brauchen Menschen, die sie unterstützen. Und dann gibt es vielfältige Dinge, wo die Zivilgesellschaft handeln kann.

Beides ist also gefordert: gezieltes staatliches Handeln und Menschen, die andere unterstützen. Welche Rolle spielt das zivilgesellschaftliche Engagement für mehr soziale Gerechtigkeit?

Ein engagierter Staat und eine starke Zivilgesellschaft müssen Hand in Hand gehen. Es gibt sehr ermutigende Erfahrungen mit Patenschaften. Studierende zum Beispiel, die sich ein Jahr lang mit einem Kind treffen, lernen, Freizeitaktivitäten, eine Bibliothek besuchen. Da zeigen die Auswertungen, dass so etwas das Gefühl des Kindes etwas bewirken zu können, enorm steigern kann. Bei Patenschaften für ältere Jugendliche zeigen die Auswertungen, die Chancen eine Ausbildung durchhalten zu können werden damit deutlich höherDas kann der Staat fördern, aber es braucht auch eine Zivilgesellschaft, die etwas ändern will. Aber natürlich braucht es am Ende auch die Bereitschaft von Menschen, ihr Glück mit zu schmieden. Deswegen ist die Elternarbeit so wichtig. Man kann Kindern nicht helfen, ohne auch ihre Eltern zu erreichen.

Welche zusätzlichen Möglichkeiten sehen Sie hier?

Die meisten Eltern scheuen sich, eine Beratungsstelle für soziale Problemlagen aufzusuchen. Aber sie gehen zur Geburt in ein Krankenhaus, und werden hier erreicht von. Auch zum Kinderarzt gehen alle. Hier ist der Weg ist leider noch versperrt, denn man könnte zumindest in sozialen Brennpunkten zeitweise eine Sozialarbeiterin in den Praxen haben und es so steuern, dass Patienten, bei denen es sinnvoll erscheint beim Arztbesuch auch einen Beratungstermin bekommen. Aber das scheitert momentan daran, dass dafür die Kommunen zuständig wären, die wollen aber keine Maßnahmen im medizinischen Umfeld bezahlen und die Krankenkassen dürfen es gar nicht finanzieren. Gemessen an den massiven Kosten unseres Gesundheitssystems wäre das eine vergleichsweise kostengünstige Maßnahme. Ich glaube, wenn wir Eltern stärken wollen, dann müssen wir solche Möglichkeiten nutzen. Das wäre meine große Hoffnung an eine nächste Legislaturperiode, dass man solche Kooperationsblockaden entschärft.

Was hätte denn die gesamte Gesellschaft von einer besseren Befähigung der Menschen in prekären Verhältnissen?

Ein Sozialstaat von diesem Umfang lässt sich überhaupt nur auf der Grundlage einer leistungsfähigen Ökonomie bewerkstelligen. Es muss ein gemeinsames Interesse sein, dass die Anforderungen an den Sozialstaat nicht deswegen größer werden, weil wir bei der Befähigung versagt haben. Das Worst-Case-Szenario wäre ein Land, das einen Teil seiner Jugendlichen nicht mehr ausbildet, hohe soziale Ausgaben hat und gleichzeitig sein Potential durch einen Fachkräftemangel schwächt. Von daher hoffe ich, dass in der letzten Phase des Wahlkampfs auch Bildungspolitik und Sozialpolitik eine stärkere Rolle spielen als bisher.

 -Gabriele Hafner