Michel Constantin im Interview

Arabische Staaten müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen

Der Krieg in Syrien nimmt kein Ende. Millionen Menschen sind geflohen – viele davon in den Libanon. Wie der Regionaldirektor der Päpstlichen Mission in Beirut, Michel Constantin, die aktuelle Lage in Syrien und dem Libanon einschätzt, lesen Sie hier.

Der Regionaldirektor der Päpstlichen Mission in Beirut, Michel Constantin (Bild: Missio) © Missio

Missio: Herr Constantin, es leben etwa 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge im Libanon. Wie ist die Lage zur Zeit?

Michel Constantin: Man muss dazu noch 500 000 Palästinenser rechnen, außerdem etwa 100 000 Flüchtlinge aus dem Irak. Diese Zahlen sind nicht ganz genau, es könnten mehr sein, oder auch weniger, denn wir haben keine offiziellen Statistiken.

Missio: Wie leben diese vielen Menschen?

Michel Constantin: Die Flüchtlinge leben nicht in offiziellen Lagern, sie werden nicht offiziell registriert. Die Zustände im Libanon sind mehr als chaotisch. Die Flüchtlinge kommen und gehen, wie sie wollen. Unsere Regierung kontrolliert das nicht. Dadurch kommt es zu erheblichen Spannungen, besonders unter der ärmeren Bevölkerung. Denn viele haben Angst, dass sie mit den Syrern um Arbeitsplätze konkurrieren müssen. Zum Beispiel als Erntehelfer oder als Bauarbeiter.

Missio: Wie reagieren die Einheimischen?

Michel Constantin: Anfangs waren die Libanesen sehr gastfreundlich. Die Armen halfen den Armen. Die Dorfbewohner im Grenzgebiet nahmen viele Flüchtlinge in ihren Häusern auf. Das sind vor allem muslimische Dörfer. Aber auch viele Siedlungen, in denen mehrheitlich Christen leben, haben Flüchtlinge aufgenommen. Dort sind auch wir aktiv: Ordensschwestern kümmern sich um den Schulunterricht für die Kinder. Ein Programm, in dem Christen den syrischen Flüchtlingen helfen, die Moslems sind. Dennoch hören wir auch viele Stimmen, die sagen: „Wir Einheimischen brauchen Hilfe. Die Flüchtlinge sollen gehen.“

Missio: Wo kommen die christlichen Flüchtlinge unter?

Michel Constantin: 90 Prozent der Flüchtlinge sind sunnitische Muslime. In den Flüchtlingssiedlungen werden Sie keine einzige christliche Familie finden. Christen haben Angst, dass unter den Muslimen auch Fanatiker sein könnten. Deshalb suchen sie vor allem in christlich dominierten Vierteln Zuflucht, bei den Armeniern, bei den Orthodoxen und so weiter.

Missio: Wenn die Spannungen steigen, und der Krieg immer weiter tobt – werden die Flüchtlinge vom Libanon bald alle nach Europa weiterziehen?

Michel Constantin: Nein. Es gibt keine Schleuserroute aus dem Libanon heraus. Das passiert eher über die Türkei, und von dort nach Griechenland. Seit dem Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im Jahr 2006 wird unsere Küste streng bewacht von einer internationalen Flotte und von den Israelis. Schleuser können dort also kaum aktiv werden. Also bleibt die Zahl der Flüchtlinge im Libanon konstant hoch, und wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird.

Missio: Welche Lösungen sehen Sie?

Michel Constantin: Bei uns im Land gibt es zwei Meinungen. Die einen sagen, wir sollten große, offizielle Flüchtlingslager schaffen, und zwar im Niemandsland an der Grenze zwischen Syrien und Libanon. Dort sei genug Platz, und die Behörden könnten genau prüfen, wer dort lebt, und was dort vor sich geht. Die Gegenmeinung lautet: „Wenn wir große Flüchtlingslager bauen, dann werden sie über Jahre hinaus bestehen bleiben, und die Flüchtlinge werden nie mehr nach Hause zurückgehen.“

Missio: Sollten denn andere arabische Staaten wie Saudi Arabien, Katar oder die Emirate mehr tun?

Michel Constantin: Ja, ich bin der festen Überzeugung, dass arabische Staaten, die viel mehr Landfläche besitzen als der Libanon, auch viel mehr Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen müssen. Nehmen wir Saudi Arabien: Dort gibt es unermessliche Geldquellen und sehr viele Arbeitsplätze. Man könnte also dort den Syrern zumindest Arbeit bieten. Anstatt sich Arbeitskräfte aus Indien oder Bangladesch zu holen, ist es doch besser, Arbeiter aus Syrien oder dem Irak zu nehmen. Sie sind Araber, sie sind Muslime, sie können die Sprache und sie sind bereit, hart zu arbeiten.

Missio: Sollte Europa Christen bevorzugt behandeln?

Michel Constantin: Ich denke, es war richtig, die erste Flüchtlingswelle aufzunehmen, ohne auf die Religionszugehörigkeit zu schauen. Damit zeigt man, dass es keine Diskriminierung gibt und keine Mauern. Aber wenn man sicherstellen will, dass die religiösen  Minderheiten – Christen, Yesiden, Alewiten und so weiter, geschützt werden, dann muss man ein neues Fenster für sie öffnen. Wenn Züge aus Ungarn die einzigen Fluchtwege für Syrer sind, dann werden kaum syrische Christen nach Europa kommen. Für sie als Minderheit ist eine solche Reise viel zu riskant. Es müsste genau festgelegte Quoten für christliche Flüchtlinge geben.

Missio: Welche Hilfe ist im Libanon nötig?

Michel Constantin: Als erstes brauchen die Flüchtlingskinder eine Schulbildung. Wenn man ihnen keine Bildung gibt, dann entsteht eine ganze Generation, die ungebildet und offen für allerlei radikales Gedankengut ist. Das schadet auf lange Sicht der ganzen Welt. Sie leben in Zelten, haben keine Perspektive - und werden schnell empfänglich für fanatische Ideen, und können vielleicht sogar zu Terroristen werden.

Missio: Können Sie auch im Kriegsland Syrien selbst noch helfen? 

Michel Constantin: Ja. In Syrien verteilen wir Medikamente in Aleppo, Damaskus und Homs. Es gibt immer irgendwo einen versteckten Ort, der noch sicher ist. In Aleppo arbeiten wir mit der maronitischen Gemeinde zusammen. Die Kirche betreibt dort ein Sozialzentrum, einer der wenigen Orte in Aleppo, an dem man noch einen Arzt und Krankenschwestern findet. In den Krankenhäusern gibt es keine Ärzte mehr.

Missio: Können Sie auch in den Gebieten etwas tun, die vom „Islamischen Staat“ beherrscht werden?

Michel Constantin: Nein, nein, dort hin können wir leider nicht. Als Päpstliche Mission helfen wir in erster Linie den Christen im Nahen Osten. Aber wir schließen Muslime oder andere Nichtchristen nicht aus. Wir helfen Christen und ihren muslimischen Nachbarn, mit denen sie gut zusammenleben. Sie verdienen genauso unsere Hilfe.

Missio: Gibt es überhaupt noch Christen, die in den von Islamisten kontrollierten Gebieten leben?

Michel Constantin: Nein. Sobald die Islamisten ein Gebiet einnehmen, müssen die Christen fliehen – oder sie sterben. Selbst dort, wo weniger radikale Gruppen als der IS herrschen, kann es sein, dass Sie eines Morgens aufwachen und hören: „Unser Gebiet gehört jetzt zum Islamischen Staat.“

Missio: Besteht die Gefahr, dass der IS auch den Libanon angreift?

Michel Constantin: Ja. Letztes Jahr wurde ein libanesisches Grenzdorf, in dem 40 000 Einwohner und 150 000 Flüchtlinge leben, überfallen. Die libanesische Armee schritt ein, aber der IS hat etwa 30 Soldaten als Geiseln genommen. In der Nähe gibt es einige Siedlungen von Christen, und der IS versucht regelmäßig, dort einzudringen. Die Gefahr ist sehr ernst. 

Das Interview führten Barbara Brustlein und Christian Selbherr (missio magazin 6/2015)